München – Wladimir Putin ist ein Meister der Selbstkontrolle, was die wenigen Momente besonders interessant macht, in denen er sich gehen lässt. Letzten Mittwoch zum Beispiel. Da nannte er den russischen Ex-Agenten Sergej Skripal einen „Dreckskerl“, der sein Land, seine Heimat verraten habe. Zwischen den Zeilen hieß das: Skripal hat eine Strafe verdient.
Lange hatte sich Russlands Präsident nur sehr zurückhalten zu dem brisanten Vergiftungs-Fall geäußert, aber die Nervosität im Kreml scheint zu steigen. Schon Mitte September suchte Putin die Flucht nach vorn. Damals ließ er wissen, man habe die beiden Verdächtigen gefunden. Es seien aber nicht, wie Großbritannien behauptet, russische Agenten, sondern Zivilisten. „Da ist nichts Besonderes dran, nichts Kriminelles“, insistierte Putin. „Das versichere ich Ihnen.“
Nur Zivilisten? Vor zwei Wochen hatten das britische Recherche-Netzwerk „Bellingcat“ und der russische Blog „The Insider“ einen der beiden Männer als hochdekorierten russischen Offizier namens Anatoli Tschepiga identifiziert. Nun wollen sie auch die wahre Identität des zweiten Mannes herausgefunden haben. Es handele sich um den Militärarzt Dr. Alexander Mischkin, heißt es in dem Recherche-Bericht. Er sei, wie Anatoli Tschepiga, unter Pseudonym nach Großbritannien eingereist und arbeite für den russischen Militärgeheimdienst GRU.
Das Investigativ-Team hat unter anderem Aussagen von Bekannten des Verdächtigen und verschiedene Ausweisdokumente ausgewertet – und kommt zu interessanten Erkenntnissen über den Mann, der an dem Gift-Anschlag auf Sergej Skripal und seine Tochter am 4. März 2018 beteiligt gewesen sein soll.
Mischkin soll am 13. Juli 1979 in dem Dorf Lojga nahe der nordrussischen Hafenstadt Archangelsk geboren worden sein. Nach dem Studium an einer Militärakademie wurde er demnach in Moskau vom Geheimdienst GRU rekrutiert. Zwischen 2010 und 2013 soll er mehrere Male in der Ukraine und in der selbst-proklamierten Republik Transnistrien gewesen sein – schon unter dem Decknamen Alexander Petrow.
Während die britische Regierung glaubt, Mischkin und Anatoli Tschepiga hätten Skripal und dessen Tochter mit dem Kampfstoff Nowitschok vergiftet, gaben die beiden Verdächtigen in einem skurrilen Interview mit dem russischen Staatssender RT an, als Touristen Salisbury besucht zu haben, um die berühmte Kathedrale zu besuchen. Sie seien bloß Verkäufer von Sportlernahrung.
„Bellingcat“ und „The Insider“ kamen allerdings relativ schnell an die Passanträge der beiden Männer. Zwar stand dort nichts zum Vorleben, dafür aber eine Telefonnummer des Verteidigungsministeriums. Die Endziffern beider Passnummern folgten dicht aufeinander, auch der Pass eines dritten GRU-Spions gehört in diese Serie. Die Frage liegt also nahe, ob der Geheimdienst nicht noch mehr Agenten mit solchen Pässen ausgestattet hat.
Im Fall Mischkins folgten die Rechercheure der These, dass in seiner Tarn-Identität viel von der echten Lebensgeschichte stecke – mit Erfolg. Nur Familienname und Geburtsort wurden geändert. Mischkin, heißt es, habe 2014 von Präsident Putin den Titel „Held Russlands“ erhalten.
Zuletzt ließ „The Insider“ auch vier Agenten in den Niederlanden auffliegen, die sich mutmaßlich in die Computer der Organisation für das Verbot von Chemiewaffen (OPCW) hacken wollten. Einer der Agenten hatte ein Auto auf die Moskauer Dienstadresse angemeldet. Dort soll auch die GRU-Hackergruppe Fancy Bear sitzen, die für Cyberangriffe auf die US-Präsidentschaftswahl 2016 verantwortlich gemacht wird.
Für Russlands Geheimdienste ist die Aufdeckungs-Serie extrem peinlich. Gerade der Fall Skripal hat hohe Wellen geschlagen und zu schweren internationalen Verwerfungen geführt. Der Kreml wollte die Recherchen gestern nicht kommentieren. Auch die britische Regierung äußerte sich nicht. Es handele sich um eine geheimdienstliche Angelegenheit, sagte der zuständige Staatssekretär Ben Wallace – und warnte davor, den GRU wegen dessen augenscheinlicher Tollpatschigkeit zu unterschätzen.
Einen Arzt auf Mord-Mission zu schicken, wäre geheimdienstlich jedenfalls plausibel. Er könnte geholfen haben, Nowitschok effektiv einzusetzen oder andere Agenten vor Vergiftung zu schützen. Könnte.