München – Manche Enttäuschung erklärt man am besten mit einer Geschichte aus dem Kinderzimmer. Ludwig Hartmann, der Spitzenkandidat der bayerischen Grünen, spielt oft mit seinem Sohn Eisenbahn. Daran musste er denken, erzählt er am Montag in München, als er über Bayerns neue Regierung nachdachte. „Die schwarze Dampflok fährt noch immer vorne“, sagt er, „aber hintendran hängt jetzt ein neuer Kohlewagen.“
Der Kohlewagen gehört den Freien Wählern, Kohlewagen-Chef ist Hubert Aiwanger. „Aber der Zug fährt noch immer in die gleiche Richtung“, sagt Hartmann, der mit seiner Partei gerade über 17 Prozent geholt hat, aber jetzt irgendwie auf dem Trockenen sitzt. Denn eigentlich, sagt er, „müssten die Weichen neu gestellt werden“. Die Botschaft ist glasklar: Der Söder-Zug hat die wichtigsten Passagiere vergessen. „Es wäre eine einmalige Chance gewesen, Ökologie und Ökonomie zu vereinbaren“, sagt Hartmann. Eine Koalition von CSU und Grünen „wäre das Beste aus beiden Welten“, sagt der Direktkandidat, der in seinem Stimmkreis in München-Mitte über 45 Prozent eingefahren hat. Es ist ein sensationelles Ergebnis, landauf, landab, das die Grünen aber wohl nicht in die Regierung spülen wird. „Leider“, sagt Ludwig Hartmann.
An der grünen Basis gibt es gewaltige Vorbehalte gegen Markus Söder. Polizeiaufgabengesetz, Flüchtlingspolitik, Umweltschutz, die Liste der Streitpunkte ist lang. Doch die Spitzen der Partei machen keinen Hehl daraus, dass sie es liebend gerne mal versucht hätten. Aber bisher haben sie kein noch so kleines Signal von Söder bekommen. Neben Hartmann sitzt Katharina Schulze, der zweite Teil des Spitzenduos. „Wir gehen nachher in unser Büro und schauen mal, ob irgendwer angerufen hat“, sagt sie.
So sieht die grüne Welt einen Tag nach der historischen Wahl aus, die der Partei das beste bayerische Ergebnis ihrer Geschichte eingebracht hat. Der Zug ist abgefahren, bevor die Grünen auch nur Blickkontakt zum Bahnsteig hatten.
Das ist die eine Seite. Enttäuschung. Auf der anderen Seite platzt die Partei fast vor Stolz. „Das Ergebnis ist eine Zeitenwende“, sagt Hartmann. „Mut besiegt Angst.“ Der Grünen-Politiker hat sogar ein paar Ratschläge für die kurz und kleine gehauene bayerische Sozialdemokratie auf Lager. „Wir haben inhaltlich eine klare Linie gehalten – zum Beispiel beim Kampf gegen Flächenfraß“. Die SPD-Haltung hingegen: „Wischiwaschi“. „Man kann nicht allen alles versprechen“, sagt Hartmann. So reden Sieger – ein bisserl besserwisserisch und mit dem magischen Gefühl, viele Wähler, jene rätselhaften Wesen, entschlüsselt zu haben.
Kurz vor der Veranstaltung in München hat auch Grünen-Parteichef Robert Habeck in Berlin eine Pressekonferenz gegeben. Er hat fast das gleiche gesagt wie seine bayerischen Parteifreunde, nur ein bisschen verschwurbelter. Ein Kinderzimmer-Vergleich mit Dampfloks würde dem Doktor der Philosophie nie über die Lippen kommen. „Wir haben die Aufgabe, ins Zentrum der Demokratie zu rücken“, sagt Habeck in typischer Habeck-Manier, „und nicht mehr nur Projektpartei zu sein, wie das vielleicht vor 15 Jahren noch der Fall war.“
Den Volksparteien fehle es an Bindungskraft, analysiert der Grünen-Chef. Die anderen Partei geben für ihn ein trauriges Bild ab. „Die Erde bebt und man bewegt sich überhaupt nicht“, sagt er, „weil man Angst hat, in den sich auftuenden Abgrund zu fallen. Aber die Alternative wäre laufen und springen, dazu sind die Parteien offensichtlich nicht in der Lage.“
Die Grünen, das soll die Botschaft sein, sind anders. Sie würden auch auf fahrende Züge aufspringen. Lokführer Markus Söder weiß das – und dürfte sich freuen. Wunderbare Voraussetzungen, um mit den Freien Wählern zu verhandeln. Wenn alle mitfahren wollen, steigen bekanntlich die Preise.
STEFAN SESSLER