GASTKOMMENTAR

Die Wahrheit in nuklearen Zeiten

von Redaktion

Wenn es um Nuklearwaffen geht, dann gelten nach wie vor bestimmte Wahrheiten – egal, was man dazu aus dem Weißen Haus, aus dem Kreml oder sogar aus dem deutschen Bundestag zu hören bekommt. Dazu gehört zum Beispiel die Tatsache, dass man sich gegen ein großes, über Land und unter See verteiltes Arsenal moderner nuklearer Waffen nicht verteidigen kann. Diese zunächst einfache Tatsache führt zu wichtigen Schlussfolgerungen, die offensichtlich in Vergessenheit geraten sind.

Erstens: Während es für tausende von Jahren die Aufgabe des Militärs war, Kriege zu gewinnen, besteht die Aufgabe im nuklearen Zeitalter darin, diese zu verhindern. Denn was hilft es einem Staat, seine Fahne über der Hauptstadt seines Gegners zu hissen, wenn auch die eigenen Städte nur noch radioaktive Schutthaufen sind?

Zweitens: Das zerstörerische Potenzial von gut versteckten Raketen ist abgekoppelt von den militärischen Fähigkeiten des Gegners. Raketen kämpfen nicht gegen andere Raketen in einer Luftschlacht. Sie zerstören Städte auf dem Boden. Deswegen ist das Verhältnis zwischen den Arsenalen der nuklearen Mächte nur bedingt relevant. Wie viele Raketen braucht man? Nur genug, um die Städte des Gegners nach seinem Angriff zerstören zu können.

Drittens: Eine beidseitige gesicherte Zweitschlags-Kapazität führt zu stabiler Abschreckung. Deswegen bezog sich die atomare Rüstungskontrolle nicht auf die Verteidigung von Menschen, sondern auf die Verteidigung des Abschreckungspotenzials der Supermächte und ermöglichte dabei die Vermeidung von nutzlosen und gefährlichen Rüstungsspiralen.

Inzwischen scheinen wir diese Wahrheiten vergessen zu haben. Während aufstrebende Mächte mit regionalen Ambitionen ihre eigenen nuklearen Waffen und die dafür notwendigen Trägersysteme entwickelten, verleitete die Chimäre einer effektiven Raketenabwehr Präsident George W. Bush dazu, unilateral aus dem Vertrag über die Begrenzung von antiballistischen Raketenabwehrsystemen auszutreten.

Obwohl ein effektives Raketenabwehrsystem immer noch nicht in Sicht ist, versuchen es die Russen mit einer neuen Generation von Marschflugkörpern mittlerer Reichweite zu umgehen. Diese haben sie entwickelt, getestet und womöglich auf europäischem Gebiet stationiert. Jeder dieser Schritte stellt eine Verletzung des INF-Vertrags von 1988 dar. Diese Verletzungen sowie die Tatsache, dass China nie zu den Vertragsparteien gehörte, führten US-Präsident Donald Trump letzte Woche dazu, auch diesen Vertrag unilateral zu kündigen.

Aber wozu diese ganzen Bestrebungen? Es mag psychologische Gründe dafür geben, aber weder die aufstrebenden Mächte noch die alten Supermächte können der existenziellen Verwundbarkeit des nuklearen Zeitalters entkommen. Das können Wladimir Putin, Xi Jinping oder Ali Chamenei genauso gut verstehen wie einst Josef Stalin. Umso verrückter ist es, dass amerikanische Präsidenten es immer wieder schaffen, ausgerechnet die USA als vertragsuntreu aussehen zu lassen und Staaten wie Russland, China oder den Iran als tugendhaft darzustellen.

VON JAMES W. DAVIS

Die USA wollen den INF-Vertrag mit Russland aus guten Gründen kündigen – und wirken dennoch vertragsuntreu

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