Helsinki – In der heißen Schlussphase hat Manfred Weber noch ein Wahlkampfvideo gedreht. Ganz tief im tiefsten Niederbayern, weit weg von diesem Brüssel. „I am from a small town in lower Bavaria“, sagt der Kandidat in einem sehr niederbayerischen Englisch. Man sieht Weber beim Joggen und Weber in der Bäckerei. Was der 46-Jährige mit seinem Filmchen aus dem heimischen Wildenberg sagen will: Seht her – ich komme nicht aus der Blase in Brüssel, sondern bin einer von euch.
Zwischen Wildenberg und Helsinki liegen gut 1500 Kilometer. In der finnischen Hauptstadt soll heute jener Traum in Erfüllung gehen, auf den Weber seit vielen Monaten akribisch hinarbeitet. Die konservative EVP wählt ihren Spitzenkandidaten für die Europawahl im Frühjahr – und Weber geht als hoher Favorit ins Rennen. In den vergangenen Tagen gesellten sich im Internet zum Weber-Film viele kleine Schwester-Filmchen. Ein europäischer Konservativer nach dem anderen sprach sich für Weber aus. Am Dienstag kamen in kurzer Aufeinanderfolge die drei Kandidaten für den CDU-Vorsitz hinzu: Annegret Kramp-Karrenbauer, Jens Spahn und Friedrich Merz. Die Prominenz ist leicht zu erklären: Der Spitzenkandidat hat beste Chancen, Jean-Claude Juncker als Chef der EU-Kommission zu folgen.
Am Mittwoch eilt Weber durch das Foyer des weitläufigen Messezentrum im Norden Helsinkis. So gut man halt eilen kann, wenn man einen Tross an Kameras im Schlepptau hat. Er und sein Kontrahent, der ehemalige finnische Ministerpräsident Alex Stubb (50), absolvieren an diesem Vormittag einen Delegationsmarathon. Ein Gespräch jagt das andere. Die letzten Unentschlossenen überzeugen. Viele Delegierte bekennen sich aber längst mit „Manfred“-Stickern am Sakko zu ihrem Favoriten. Die Prognosen reichen von 60 bis 75 Prozent für ihn.
Weber steht kurz vor dem Triumph. Sein Weg zum Spitzenkandidaten gleicht einem Lehrstück darüber, wie der Niederbayer Politik betreibt. Nämlich gänzlich untypisch für die CSU. Der Ingenieur gehört nicht zu denen, die Schlagzeilen produzieren. Er gibt sich nachdenklich, manchmal wirkt er fast vorsichtig. Dabei kann er sich sehr wohl durchsetzen. Jenseits des Rampenlichts plant er sein Vorankommen seit Jahren. Wenn es seinen langfristigen Interessen dient, nimmt er auch vermeintliche Abstiege in Kauf: Mit Blick auf die Spitzenkandidatur verzichtete er 2017 darauf, Präsident des EU-Parlaments zu werden. Stattdessen reiste er quer durch Europa und schmiedete Allianzen. Mühevolle Kleinarbeit, die gestern erst mit dem Marathon durch die Delegationen endet.
Heute soll sich das alles auszahlen. Alex Stubb hat den Vorteil, als ehemaliger Ministerpräsident Regierungserfahrung mitzubringen. Richtig bekannt ist auch er nicht. In seinem Bewerbungsvideo sieht man den durchtrainierten Finnen, wie er im Maßanzug mit Mächtigen in Brüssel Hände schüttelt und vor einem Wald aus Mikrofonen spricht. Weber dagegen sitzt mit offenem Hemd im Wirtshaus seiner Heimatgemeinde.
Gestern Abend kommt es zum ersten Aufeinandertreffen. Weber wollte ein direktes Duell eigentlich vermeiden. Der Niederbayer, der sich mit dem Englischen lange schwer tat, wirkt längst nicht so weltläufig wie der fünfsprachige Finne, der Weber erst einmal auf Deutsch für den fairen Wahlkampf dankt. Inhaltlich gibt es wenige Unterschiede (der Umgang mit Viktor Orbán, wo Stubb die härtere Linie fährt, wird großzügig ausgeklammert). Es geht um Stilfragen. Bodenständigkeit gegen Glamour, Beharrlichkeit gegen Eloquenz – das sind die Alternativen für die Delegierten.
Ob das an Webers Favoritenrolle etwas ändert? Eher nicht. In der deutschen Delegation heißt es, Stubb habe als Europaabgeordneter zu oft die Fraktionslinie verlassen und auf eigene Rechnung agiert. Vielleicht auch deshalb sprechen sich viele Delegationen offen für Weber aus. Für die CSU fliegt Horst Seehofer ein, der seine Partei als glühende Europäer zeichnet. Weber stehe in einer Reihe mit Franz Josef Strauß, Theo Waigel und Edmund Stoiber. Er sei der richtige Brückenbauer in schwierigen Zeiten. Seehofer: „Wir müssen die genialste Idee der Nachkriegsgeschichte wieder mehr zum Projekt der Menschen in Europa machen.“