Erinnerung an einen Schicksalstag

von Redaktion

Zwei Weltkriege, Nationalsozialismus und Judenvernichtung haben die deutsche Identität geprägt. Aber die Geschichte ist ambivalent und widersprüchlich. Der Anfang der Weimarer Republik war auch ein Meilenstein für Freiheit und Demokratie.

VON THOMAS LANIG

Berlin – Der 9. November ist der „Schicksalstag“ der Deutschen, er vereint wie kein anderer Tag Glück und Unglück ihrer Geschichte: An diesem Tag jähren sich der Mauerfall und die Reichspogromnacht mit dem Beginn der Judenvernichtung, aber auch die Ausrufung der deutschen Republik vor 100 Jahren. Ein Bundespräsident kann diesen Tag nicht anders als mit einer sehr grundsätzlichen Rede würdigen. Am Freitag im Bundestag wirbt Frank-Walter Steinmeier dafür, der Novemberrevolution von 1918 endlich den Platz zu geben, der dem Ereignis gebührt. Der 9. November 1918, als Philipp Scheidemann vom Berliner Reichstagsgebäude aus die Republik ausrief, sei ein historischer „Meilenstein“, aber leider immer noch „ein Stiefkind unserer Demokratiegeschichte“. Das muss sich ändern, sagt Steinmeier und plädiert für einen „demokratischen Patriotismus“ in Deutschland. Die Katastrophe zweier Weltkriege und der Holocaust seien unverrückbarer Teil der deutschen Identität. Zugleich sollte aber auch an die Wurzeln von Demokratie- und Freiheitsstreben erinnert werden.

Viel Beifall für das Staatsoberhaupt, vor allem bei einer Passage, in der er die deutschen Nationalfarben für die Demokratie reklamiert. „Wer heute Menschenrechte und Demokratie verächtlich macht, wer alten nationalistischen Hass anfacht, der hat gewiss kein historisches Recht auf Schwarz-Rot-Gold.“

Zum Auftakt der Gedenkstunde ergreift Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble das Wort. Mit Blick auf die Ereignisse vor 100 Jahren, aber auch auf die Pogromnacht von 1938 und den Mauerfall von 1989 sagt er: „An diesem Datum verdichtet sich unsere jüngere Geschichte in ihrer Ambivalenz, mit ihren Widersprüchen und Gegensätzen.“ Und er fügt hinzu: „Das Tragische und das Glück, der vergebliche Versuch und das Gelingen, Freude und Schuld: All das gehört zusammen. Untrennbar.“ Auch Steinmeier benennt Widersprüche: „Wir können stolz sein auf die Traditionen von Freiheit und Demokratie, ohne den Blick auf den Abgrund der Shoa zu verdrängen“, sagt er. Auch der 9. November 1918 stehe für eine paradoxe und widersprüchliche Revolution. Teile der radikalen Linken hätten von einem „Verrat an der Arbeiterklasse“ gesprochen, Republikfeinde von rechts vom „Dolchstoß“ und dem angeblichen Verrat an den Frontkämpfern.

Steinmeier erinnert auch an den Fall der Mauer 1989 – „den glücklichsten 9. November in unserer Geschichte“. Es bleibe aber die „schwierigste und schmerzhafteste Frage“, wie wenige Jahre nach dem Aufbruch 1918 Feinde der Demokratie Wahlen gewinnen konnten, das deutsche Volk seine europäischen Nachbarn mit Krieg und Vernichtung überzog und „jüdische Familien in Viehwagen pferchte und Eltern mit ihren Kindern in Gaskammern schickte“.

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