Paris –- „Wo ist der Präsident?“ Diese Frage ist in Frankreichs dramatischen Krisentagen immer wieder zu hören. Während in Paris die Krawalle tobten und Autos brannten, weilte Emmanuel Macron beim G20-Gipfel in Argentinien. Von dort aus verdammte der 40-Jährige zwar die schlimmen Ausschreitungen – doch seit seiner Rückkehr am Wochenende hielt er sich mit Äußerungen auffallend zurück. Stattdessen ging der Herr des Élyséepalastes mit Bereitschaftspolizisten zum Mittagessen, beriet in Krisenrunden und überließ Premierminister Édouard Philippe Auftritte im Scheinwerferlicht.
Der Regierungschef kündigte nun an, geplante Steuererhöhungen auf Benzin und Diesel auf Eis zu legen. Das ist eine Kernforderung der Protestbewegung „Gelbwesten“. Die zum Januar geplante Anhebung der Ökosteuer wird für sechs Monate aufgeschoben. Auch die staatlich regulierten Strom- und Gaspreise bleiben vorerst stabil. Es ist aber alles andere als sicher, dass dieses späte Einlenken den Sturm der Entrüstung in der zweitgrößten Volkswirtschaft der Eurozone abflauen lässt. Viele befürchten, dass es an diesem Samstag erneut Ausschreitungen in Paris gibt.
Dem seit gut eineinhalb Jahren regierenden Macron schien zunächst alles zu gelingen. Ein überraschender Wahlsieg, eine breite Parlamentsmehrheit, mitunter enthusiastisches Echo bei europäischen und internationalen Nachbarn, darunter auch in Deutschland. Eben einer, der auch mal seinem unberechenbaren US-Amtskollegen Donald Trump knallhart Paroli bieten kann.
Reformprojekte peitschten der Senkrechtstarter und Philippe auch gegen harten Protest durch, beispielsweise bei der Bahn. Macron zeigte sich wirtschaftsfreundlich – schnell war vom „Präsident der Reichen“ die Rede; die Beliebtheitswerte gingen in den Sinkflug. Im vergangenen Sommer kratzte eine Affäre um einen Sicherheitsmann im Élyséepalast an Macrons Image.
Der Ex-Wirtschaftsminister sitzt als Präsident mit weitgehenden Kompetenzen zwar fest im Sattel, muss aber nach Massenprotesten bei den Steuern einknicken – ein Novum für Macron. Vorgänger wie sein sozialistischer Ziehvater François Hollande hatten es ihm vorgemacht. „Den Kurs beibehalten“ – dieses eherne Motto Macrons gerät ins Wanken. Ausgerechnet eine Protestbewegung, die innerhalb von Wochen aus dem Nichts kam und der Anführer fehlen, sorgt für seine bisher größte Krise.
Er und die Regierung haben die Kraft des Protests der „Gilets Jaunes“ unterschätzt. Philippe zeigt sich inzwischen selbstkritisch. „Man müsste taub und blind sein, um diese Wut nicht zu hören und nicht zu sehen.“ Er fügt mit Blick auf die „Gelben Westen“ hinzu: „Sie wollen, dass die Steuern sinken und Arbeit sich auszahlt. Das wollen wir auch.“
Die Bewegung hat sich vor allem in Internet formiert, insbesondere bei Facebook. In unzähligen Gruppen dort werden kommende Aktionen geplant, Meinungen und Artikel geteilt. Der französische Medienwissenschaftler Frédéric Filloux schrieb jüngst in einem Blogbeitrag, Facebook habe für viele „Gelbwesten“ die Rolle der traditionellen Medien übernommen, denen sie nicht mehr vertrauten.
Die „Gelbwesten“ begannen weitab von Parteien und Gewerkschaften. Es versammeln sich häufig Menschen, die sich noch nie zuvor politisch engagiert haben. Ihre Forderungen sind ganz unterschiedlich – und reichen von „mehr Kaufkraft für die Franzosen“ bis hin zu einem Sturz Macrons. Der kleinste gemeinsame Nenner ist die Wut über die Spritpreise.
Laut Umfragen halten etwa drei Viertel der Franzosen den Protest für gerechtfertigt. Vor allem Menschen aus ländlichen Regionen und in angespannter finanzieller Lage fühlen sich zugehörig. Demnach sind besonders viele Unterstützer Anhänger der Rechtspopulistin Marine Le Pen. Aber auch bei Wählern des Linksaußenpolitikers Jean-Luc Mélenchon ist der Anteil hoch. Beide Spitzenpolitiker, Macrons erbittertste Widersacher, machen aus ihrer Sympathie keinen Hehl.