München – Auf Feindbilder kann man sich verlassen. Darum soll auch diesmal er an allem schuld sein: George Soros. Zusammen mit „verzweifelten“ Oppositionspolitikern habe der US-Investor die Proteste tausender Ungarn angezettelt. Leute aus dem „einfachen Volk“ hätten damit nichts zu tun. So sieht es jedenfalls die Regierung.
Es ist der Versuch, die Ereignisse zu marginalisieren. Tatsächlich hat Ungarn in der Vergangenheit schon heftigere Demonstrationen erlebt als in den vergangenen Tagen. Gerade in Budapest gehen immer wieder Menschen gegen die rechtskonservative Regierung auf die Straße, je nach Anlass sind es Hunderttausende. Die Proteste ebben meist schnell wieder ab, Orbán sitzt das stets mit großer Gelassenheit aus. Aber diesmal scheint etwas anders zu sein.
Auslöser der Aufregung ist ein neues Arbeitszeiten-Gesetz, das die Regierung vergangene Woche eilig durchs Parlament gedrückt hat. Unternehmen sollen von ihren Mitarbeitern künftig bis zu 400 (statt wie bisher 250) Überstunden im Jahr verlangen können. Mit der Bezahlung der Mehrarbeit können sie sich Zeit lassen: bis zu drei Jahre. Kritiker sprechen nur vom „Sklavengesetz“.
„Dieser Begriff ist sicher zu drastisch“, sagt Osteuropa-Experte Kai-Olaf Lang“ von der Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik. „Aber die Neuregelung kann natürlich beachtliche Veränderungen für die Arbeitnehmer bringen.“ Besonders brisant sei die Sache, weil es um etwas sehr Konkretes gehe, eine soziale Frage. „Die betrifft nicht nur die, die ohnehin Orbán-kritisch sind, sondern prinzipiell alle“, sagt Lang. Gerade die, die die Regierung als „einfaches Volk“ bezeichnet.
Die Wut entlädt sich deshalb nicht nur in Budapest, sondern auch in kleineren Städten, in denen viele Arbeiter leben. Ungarn hat Vollbeschäftigung und leidet, weil viele das Land verlassen, zugleich unter Fachkräftemangel. Die Regierung kriegt das Problem nicht in den Griff. Dass sie dafür büßen und länger arbeiten sollen, sehen viele aber schlicht nicht ein.
In dieser Situation wittert die Opposition, eigentlich heftig zerstritten, ihre Chance. Sie zeigt sich geschlossen – von links bis rechtsaußen – und verknüpft die Unzufriedenheit über das Überstundengesetz mit anderen Themen: der abnehmenden Unabhängigkeit der Gerichte, der Drangsalierung der Zivilgesellschaft und der einseitigen, regierungsfreundlichen Berichterstattung der Presse. Es geht längst um mehr als ein Gesetz.
Die stärksten Proteste fanden am Sonntag statt. Bis zu 15 000 Menschen sammelten sich in Budapest – und zogen vor den Sitz des staatlichen Fernsehsenders MTV. 13 Politiker der Opposition drängten in das Gebäude und verlangten, im Fernsehen einen Forderungs-Katalog vorlesen zu dürfen. Auf Videos ist zu sehen, wie sich manche auf den Boden werfen, um nicht abgeführt zu werden, andere werden aus dem Gebäude geworfen. Erst am Montag verließen die letzten Politiker den Sender. Ihre Forderungen durften sie nicht verlesen.
All das roch ein wenig nach Eskalation, zumal die Polizei draußen unter anderem mit Tränengas gegen Demonstranten vorging. Solche Bilder kamen zuletzt vor allem aus Frankreich. Ungarn-Experte Lang hält die Proteste aber für kaum vergleichbar. „Das ist sicher keine ungarische Gelbwestenbewegung“, sagt er. Überhaupt sei schwer absehbar, wohin sich all das entwickelt. „Die Frage ist, was die Opposition draus macht. Aber die Regierung kommt wahrscheinlich nicht in Wanken.“
Trotzdem: Der Druck auf Orbán steigt. Die – allerdings sehr schwachen – Gewerkschaften haben mit Streik gedroht, sollte er das Überstunden-Gesetz unterschreiben. Selbst in Orbáns Fidesz-Partei ist man unzufrieden. Laut einer Umfrage sind 63 Prozent der Mitglieder gegen das Gesetz (83 Prozent aller Ungarn). Lang: „Orbán kann das nicht ignorieren.“