München – Kurz vor Weihnachten hat Winfried Kretschmann noch mal einen Medientermin nach seinem Geschmack. In Stuttgart bekommt der Ministerpräsident von Baden-Württemberg einen neuen Dienstwagen. Statt in einem Daimler mit herkömmlichem Antrieb sitzt der 70-Jährige nun in einem Daimler, der dank Strom und Wasserstoff rollt.
Ob er dabei an Seite 117 seines unlängst erschienenen Buchs gedacht hat, ist nicht überliefert. „Das emissionsfreie Auto der Zukunft soll in Untertürkheim und nicht in Fremont oder Wuhan vom Band rollen“, schreibt Kretschmann dort. Das ist nicht überraschend für einen Grünen-Politiker, der seit Jahren die Verbindung von Ökonomie und Ökologie zigfach zum Ziel erklärt hat.
Dennoch dürften gerade die Strategen von CDU und CSU das grün ummantelte Büchlein mit dem Titel „Worauf wir uns verlassen wollen“ mit Interesse gelesen haben. Denn Kretschmann skizziert darin seine Vorstellungen von konservativer Politik im Angesicht von Digitalisierung und Rechtspopulismus. Dazu gehören grüne Klassiker: Kampf gegen den Klimawandel, Loblied auf erneuerbare Energien, Sticheln gegen die FDP und Markus Söders Kreuz-Erlass.
Dazu gehören aber auch Elemente, die man sonst eher bei der Union findet. Kretschmann preist das Erhard’sche „Erfolgsmodell der sozialen Marktwirtschaft“, sinniert über Heimat (Schwäbische Alb) und mehr Polizisten. Und er schreibt Sätze, die auf Grünen-Parteitagen glatt durchfallen dürften. Beispiel Migration: Wer „nicht politisch verfolgt oder einem Bürgerkrieg entflohen ist, muss in seine Heimat zurückkehren“.
Bei Kretschmann heißt dieser Mix „die Idee der guten Mitte“. Ein durchaus erfolgreicher Ansatz. Beim ersten Erfolg, 2011, konnten seine Gegner noch auf die turbulenten Umstände (Fukushima! Stuttgart 21!) verweisen. Bei der Wiederwahl 2016 war das schon schwieriger – hier wurden die Grünen stärkste Kraft vor der CDU. Und im Sommer ergab eine Infratest-Umfrage, dass drei von vier Baden-Württembergern mit Kretschmanns Arbeit zufrieden sind. Die Schlagzeile: „Beliebtester Ministerpräsident Deutschlands“.
Seit gut sieben Jahren gibt Kretschmann inzwischen den zugewandt-knurrigen Landesvater. Die Idee zu seinem Buch kam ihm im Zorn. Als CSU-Politiker Alexander Dobrindt vor knapp einem Jahr eine „konservative Revolution“ forderte, sprach Kretschmann genervt von „Papieren von irgendwelchen Möchtegern-Konservativen in der Union“ – und begann zu schreiben.
Nun gibt es kaum Grüne, denen derart viel am Wörtchen konservativ liegt wie dem langjährigen Lehrer, einst Gründungsmitglied seiner Partei im Südwesten. Auch deshalb gibt es in Baden-Württemberg viele Leute, die ihn in der falschen Partei wähnen. „Fünfmal am Tag“ höre er diesen Vorwurf, erklärte Kretschmann Anfang Dezember im ZDF. Falsch sei diese Einschätzung dennoch, schließlich habe ihn seine Partei ja mehrmals als Spitzenkandidat nominiert.
Tatsächlich wäre es zu einfach, Kretschmann nur als Schwarzen im grünen Gewand abzutun. Denn wer die Partei unter den neuen Chefs Robert Habeck und Annalena Baerbock analysiert, wird feststellen: Die Grünen zieht es immer mehr in die Mitte. Kretschmann wird das mit Freude und etwas Genugtuung zur Kenntnis nehmen. Die Anleitung zu diesem Kurs hat er schließlich selbst verfasst. MAXIMILIAN HEIM
Das Buch
Winfried Kretschmann, „Worauf wir uns verlassen wollen – Für eine neue Idee des Konservativen“, S. Fischer Verlag, 154 S., 13 Euro.