München – Der Hilferuf ist kurz und betont höflich. „Wir laden die syrischen Regierungstruppen ein, die Kontrolle über die Gebiete zu übernehmen, die wir ihnen entzogen haben, insbesondere von Manbidsch“, heißt es in einer Erklärung, die die Kurden-Miliz YPG am Freitag an Damaskus richtete. Es gehe darum, eine „türkische Invasion der Gebiete“ zu verhindern. Kurz darauf kursierten erste Meldungen über die Ankunft syrischer Truppen in der Stadt. Sie sollen angeblich gleich die Nationalflagge gehisst haben.
Die Ereignisse vom Freitag deuten eine neue Wende im syrischen Bürgerkrieg an. Es ist das erste Mal seit gut sechs Jahren, dass sich syrische Streitkräfte im 30 Kilometer von der türkischen Grenze entfernten Manbidsch befinden. Die Kurden hatten im Zuge ihres Kampfes gegen die Terrormiliz IS den Nordosten Syriens erobert und ihre Autonomie mit Unterstützung der USA ausgebaut. Machthaber Baschar al-Assad schickt sich nun an, auch diese Gebiete zurückzugewinnen.
Nach dem angekündigten Truppenabzug der USA fügen sich die Dinge jedenfalls zu Gunsten Assads, der sich mit Blick auf Manbidsch als Retter inszeniert. Mit der Verlegung von Einheiten dorthin stellten die Regierungstruppen die Souveränität auf dem gesamten syrischen Staatsgebiet sicher, erklärte die Armee. Zuvor hatte die Türkei tagelang mit einer Offensive gegen die ihr verhasste Kurdenmiliz YPG gedroht.
Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan lässt davon auch nach den Ereignissen von Freitag nicht ab: „Unser Ziel ist es, der YPG eine Lektion zu erteilen und wir sind gewillt, dies zu tun“, sagte er. Es sei aber auch klar, dass die Gebiete um Manbidsch zu Syrien gehörten. „Unser oberstes Ziel ist es sicherzustellen, dass alle Terrorgruppen das Gebiet verlassen“, sagte Erdogan.
Die YPG hatten zuvor erklärt, dass sich ihre Truppen aus dem Gebiet um Manbidsch zurückgezogen hätten, um sich ganz auf den Kampf gegen den IS zu konzentrieren. Aus dem kurdischen Militärrat von Manbidsch hieß es indes, die syrischen Truppen seien nicht in die Stadt einmarschiert. Sie hätten eine Art „Sicherheitsring“ um die Stadt errichtet.
Moskau begrüßte die Truppenverlagerung der syrischen Armee. „Dies ist natürlich ein positiver Schritt zur Stabilisierung der Situation“, sagte Kremlsprecher Dmitri Peskow laut russischen Medien. Dass die Regierungstruppen ihre Kontrollzone ausweiteten, sei ebenfalls positiv. Russland ist ebenso wie der Iran militärische Schutzmacht von Syrien. Die Türkei unterstützt Rebellen in Syrien. Pikanterweise wollen beide Länder an diesem Samstag über die Entwicklung in dem Bürgerkriegsland beraten.
Beobachter sehen die Annäherung der Kurden an die Führung in Damaskus als direkte Folge des angekündigten US-Truppenabzugs. Dadurch veränderten sich fast sieben Jahre nach Ausbruch des Krieges die Machtpositionen in Syrien grundlegend. Während die USA an Glaubwürdigkeit verlieren, werde sich Moskau als „Vermittler zeigen, um einen Kompromiss zu finden“, schrieb Nahost-Experte Alexej Chlebnikow vom Russischen Rat für Internationale Beziehungen auf Twitter. Russland könne die Kurden und die Türkei benutzen, um den Einfluss auf Damaskus zu erhöhen.
Auch die arabischen Golfstaaten, die bislang verschiedene Rebellengruppen im Kampf gegen Assad unterstützten, scheinen sich Damaskus wieder anzunähern. Am Donnerstag eröffneten die Vereinigten Arabischen Emirate ihre Botschaft in Syrien wieder. Auch Bahrain kündigte an, die Botschaftsarbeit in Syrien „weiterzuführen“. Beiden Staaten geht es darum, den Einfluss Irans in Syrien zu verkleinern.
Weit entfernt von Manbidsch und Damaskus gerät derweil ein anderer unter Zugzwang: Emmanuel Macron. Wenn die US-Truppen abziehen, wird Frankreich der letzte westliche Truppensteller im Norden Syriens sein. Zuletzt bekräftigte Paris, der Rückzug der Amerikaner ändere nichts an Frankreichs Engagement in Syrien. In der jetzigen Konstellation hieße das aber, sich neben Assad gegen eine türkische Offensive zu stemmen. Keine attraktive Aussicht.