Berlin – Alarm bei den Kieferorthopäden: Laut einem vom Gesundheitsministerium in Auftrag gegebenen Gutachten ist die medizinische Notwendigkeit von Zahnspangen nicht eindeutig belegt. Ein Gespräch mit dem Essener Gesundheitsökonomen Jürgen Wasem über die Konsequenzen. Die Hälfte aller Heranwachsenden durchläuft bisher diese oft teure Behandlung.
Ist die Kieferorthopädie für Jugendliche im Prinzip nur Lifestyle?
Die Autoren der Studie stellen fest, dass Zahnfehlstellungen verringert werden und die Lebensqualität verbessert wird. Nicht klar ist jedoch, ob Karies, Parodontitis und der Verlust von Zähnen verhindert werden können. Das ist nach dem aktuellen Gutachten nicht ausreichend bewiesen.
Ist das ein Einzelfall?
Absolut nicht. Mehr als zwei Drittel der Therapien, die medizinisch gemacht werden, sind nicht auf ihren mittel- und langfristigen Nutzen hin überprüft worden. Man verordnet sie, weil man das immer so gemacht hat und weil man glaubt, dass sie helfen. Das gilt jedenfalls für alte Anwendungen, zu denen auch die Kieferorthopädie gehört.
Die Krankenkassen übernahmen die Kosten für Zahnspangen bisher nur, wenn bestimmte Indikationen vorlagen, die auf erhebliche Zahn- und Kieferprobleme hindeuteten.
Es geht hier um zwei unterschiedliche Fragestellungen. Das Indikationsverfahren soll feststellen, für welche Versicherten die Zahnspangen angezeigt sind. Davon unabhängig ist die übergeordnete Frage, ob das Verfahren langfristig überhaupt einen Nutzen hat. Darum geht es jetzt.
Bedeutet das Gutachten das Ende der Kieferorthopädie an Jugendlichen?
Es wird weiterer Studien bedürfen, um zu untersuchen, wie das Verfahren mittel- und langfristig tatsächlich wirkt. Diese sollten jetzt sehr rasch in Auftrag gegeben werden. Und dann ist der Gesetzgeber am Zuge und muss entscheiden, ob die Kieferorthopädie im Leistungskatalog der Kassen bleibt oder nicht.
Kritiker sagen, dass die Röntgenbilder, die für die Behandlungspläne gemacht werden, eine Belastung für die Heranwachsenden sind. Und die Kieferorthopädie deshalb mehr Schaden als Nutzen anrichte.
Auch das ist ein Grund, diese Behandlungsmethode nun eingehend zu untersuchen. Wenn es Risiken gibt, die den Nutzen klar überwiegen, dann sollten die Kassen dafür auf keinen Fall mehr aufkommen.
Viele Eltern zahlen schon jetzt viel Geld für Extraleistungen, auch weil die Kieferorthopädie eine Art Schönheitsoperation für Heranwachsende geworden ist. Ist der Krankenkassenzuschuss da überhaupt noch entscheidend?
Für die Ärzte wohl nicht. Aber wenn die Behandlung tatsächlich einen Nutzen hätte und nicht mehr von den Krankenkassen bezahlt werden würde, dann ergäbe sich eine soziale Schieflage. Dann könnte man später an den Gebissen sehen, welche Eltern sich die Spange leisten konnten und welche nicht.
Der Maßstab ist aber nicht Schönheit oder soziale Ausgewogenheit, sondern die Verhütung von ernsthaften Folgekrankheiten wie Atem-, Kau- und Sprechproblemen.
Auch die Lebensqualität gehört zu dem, was Kieferorthopädie verbessern soll. Die kann sich wiederum auch auf das psychische Befinden auswirken, positiv oder negativ. Das alles müsste jetzt eingehend untersucht werden.
Der Bundesrechnungshof erst hat das aktuelle Gutachten angestoßen. Warum müssen solche Initiativen immer von außerhalb des Gesundheitssektors kommen?
Das ist nicht so. Bei allen neuen Verfahren werden inzwischen durch das Institut für Wirtschaftlichkeit und Qualität im Gesundheitswesen vorher systematische Studien über die langfristige Wirksamkeit gemacht. Sei es bei Arzneimitteln, sei es bei Heilmitteln oder Behandlungen.
Interview: Werner Kolhoff