Ein China – zwei Interpretationen. Das ist die Formel, mit der der Systemwettkampf zwischen dem autoritären Peking und der demokratischen Republik Taiwan ausgetragen wird. Welche der beiden Sichtweisen sich durchsetzen soll, steht für Festland-Chinas Präsidenten Xi Jinping außer Frage: die eigene. Die „Wiedervereinigung“ sieht die Einverleibung Taiwans in Xis Riesenreich vor und das nicht in ferner Zukunft, sondern möglichst bald. Sein Traum: Nach der Rückholung Hongkongs 1997 will Xi als derjenige in die Geschichte eingehen, der China wieder auf Weltformat und zur Einheit geführt hat.
Die Drohung, dies nötigenfalls auch unter Einsatz militärischer Gewalt zu vollziehen, ist nicht neu, zeigt aber Xis wahres, rücksichtsloses Gesicht. Denn jeden Tag sind die 23 Millionen Taiwanesen der lebende Beweis für die Falschheit von Xis These, wonach sich 5000 Jahre konfuzianische Tradition nicht mit dem Modell westlicher Demokratie vereinbaren ließen. So lange die Regierung in Taipeh nicht formell die Unabhängigkeit ausruft, wird Peking die militärische Karte wohl kaum ziehen. Doch der Zeitpunkt für Muskelspiele scheint günstig: Taipehs Schutzmacht USA isoliert sich unter Trump. Und die auf Taiwans Unabhängigkeit bedachte Präsidentin Tsai Ing-Wen ist nach einer schweren Wahlschlappe geschwächt.
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