Wenn der Sozialstaat die Stütze streicht

von Redaktion

FRAGEN & ANTWORTEN Karlsruhe prüft ab heute Hartz-IV-Sanktionen auf ihre Verfassungsfestigkeit

Berlin – Der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts kommt heute um zehn Uhr in Karlsruhe zusammen, um über einen Grundpfeiler der deutschen Arbeitsmarktpolitik zu verhandeln: die Hartz-IV-Sanktionen. Darf der Sozialstaat weiter die Leistungen bei der Grundsicherung wegen bestimmter Regelverstöße beschneiden oder streichen oder nicht? Darüber müssen die Richter entscheiden. Die Hintergründe:

Warum wird Karlsruhe jetzt aktiv?

Auslöser ist eine Vorlage des Sozialgerichts Gotha. Die Thüringer Richter halten die Sanktionen für grundgesetzwidrig. Ihre Argumentation: Durch die Kürzungen der im Fachdeutsch als Arbeitslosengeld II bezeichneten Leistung werde in das Recht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum eingegriffen. Dieses habe der Gesetzgeber über die Höhe des Regelbedarfs – 424 Euro für einen Single im Monat plus Wohnkosten – festgelegt und dürfe nicht unterschritten werden.

Um welchen Fall geht es?

Bei den Gerichtsverhandlungen in Gotha ging es um einen Arbeitslosen, dem das Jobcenter 30 Prozent der Stütze abzog, weil der Betroffene einen Job als Lagerarbeiter abgelehnt hatte und lieber in den Verkauf wollte. Da hier ein Bundesgesetz berührt ist, nämlich das Sozialgesetzbuch II, riefen die Gotha Richter Karlsruhe an.

Wie sind die Sanktionen geregelt?

Wer das steuerfinanzierte Arbeitslosengeld II bezieht, muss bestimmte Pflichten erfüllen. Andernfalls kann das Jobcenter die Leistung teilweise oder sogar vollständig streichen. Wird zum Beispiel ein Termin im Jobcenter verpasst, ist eine Kürzung um zehn Prozent für drei Monate fällig. 30 Prozent weniger Geld muss hinnehmen, wer zumutbare Arbeit ablehnt oder sich nicht an bestimmte Auflagen hält, also zum Beispiel keine Bewerbungen schreibt. Im Wiederholungsfall können 60 Prozent der Leistungen abgezogen werden. Menschen unter 25 Jahren bekommen dann sogar schon die Miet- und Heizkosten gestrichen. Für alle Älteren greift diese besonders harte Maßnahme erst ab der dritten Pflichtverletzung.

Welche Bedeutung haben die Sanktionen?

Nur etwa drei Prozent der Grundsicherungsempfänger haben damit zu tun. Gegenwärtig gibt es rund vier Millionen erwerbsfähige Hartz-IV-Bezieher und damit auch potenzielle Sanktionsanwärter. Nach Angaben der Bundesagentur für Arbeit waren 2017 im Jahresdurchschnitt knapp 137 000 Menschen von mindestens einer Sanktion betroffen. Für durchschnittlich 7228 Personen wurde die Stütze inklusive Mietkosten komplett gestrichen. Insgesamt kam es 2017 zu fast einer Million Sanktionen. Davon wurden mehr als drei Viertel wegen Meldeversäumnissen, also etwa verpasster Termine, verhängt.

Welche Reformvorschläge gibt es?

Untersuchungen haben gezeigt, dass es nicht sinnvoll ist, Jugendliche stärker zu sanktionieren als Ältere. So kann die Streichung der Mietkosten dazu führen, dass sich Betroffene überhaupt nicht mehr im Jobcenter melden. Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) plädiert deshalb dafür, diese Strafmaßnahme abzuschaffen. Grüne und Linkspartei gehen noch weiter. Sie fordern sogar die komplette Streichung aller Sanktionen. STEFAN VETTER

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