London – Die britische Premierministerin Theresa May steht vor dem Scherbenhaufen ihrer Politik. Mit 432 zu 202 Stimmen schmetterten die Abgeordneten ihren Brexit-Deal am Dienstag im Parlament ab. Berichten zufolge votierten sowohl 118 konservative Abgeordnete als auch ihre Verbündeten von der nordirisch-protestantischen DUP gegen das Brexit-Abkommen der Regierungschefin.
Es sei klar, dass das Unterhaus diesen Deal nicht unterstützt, sagte May nach der Niederlage. „Aber das heutige Votum sagt uns nichts darüber, was es unterstützt. Nichts darüber, wie oder ob überhaupt es die Entscheidung umsetzten will, die das britische Volk in dem vom Parlament anberaumten Referendum getroffen hat.“ Aber letztlich ist sie es, die es versäumt hat, eine Mehrheit der Parlamentarier auf ihren Kurs einzuschwören.
Nun ist sie krachend gescheitert. In normalen Zeiten müsste May sofort zurücktreten. Doch das sind keine normalen Zeiten. Das Brexit-Votum von 2016, bei dem eine knappe Mehrheit der Briten für den EU-Austritt stimmte, hat alte Gewissheiten über den Haufen geworfen.
Die Zerstrittenheit unter den Abgeordneten spiegelte sich auch auf der Straße wider. Demonstranten, die für und gegen den Brexit sind, versammelten sich vor dem Parlament. „Stop the Brexit mess!“ (Stoppt das Brexit-Durcheinander“), schrien die einen, „No Deal? – No Problem!“ (Kein Abkommen? – kein Problem!) die anderen. EU-freundliche Doppelbus-Fahrer hupten solidarisch.
May wird wohl nicht aufgeben. Sollte sie den Misstrauensantrag heute überstehen, wonach es aussieht, wird sie versuchen, mit Brüssel nachzuverhandeln und den Deal erneut dem Parlament vorlegen. Wieder mit dem Kopf gegen die Wand, wie es britische Medien oft beschreiben.
Dabei wird die Zeit knapp. Immer näher rückt der Austrittstermin 29. März, der sogar gesetzlich festgeschrieben wurde. Eine Verlängerung der Frist lehnte May immer wieder ab. Sollte es keine Einigung auf ein Abkommen mit Brüssel geben, droht der ungeregelte Austritt.
Wenn man May etwas als Stärke auslegen will, dann ist es ihre Zähigkeit, trotz wiederholter Rückschläge an ihrem Amt festzuhalten. Doch längst halten Beobachter diese Widerstandsfähigkeit für Sturheit. Der Journalist Steve Richards glaubt gar, dass May ihr eigenes politisches Überleben mit dem Interesse des Landes gleichsetzt. „Das ist immer gefährlich, weil es fast immer falsch ist“, sagt er.
Zur Überraschung vieler in Europa interpretierte die EU-Befürworterin May das knappe Votum der Wähler so wie die verbohrtesten Brexit-Enthusiasten im Parlament. Mit ihren roten Linien manövrierte sie sich bald in eine Ecke, aus der sie keinen Ausweg mehr fand. „Brexit bedeutet Brexit“ wurde gleichbedeutend mit Austritt aus der Zollunion, Austritt aus dem Binnenmarkt und keine Rolle mehr für den Europäischen Gerichtshof.
Dass es für diese Interpretation des Wählerwillens keine Mehrheit im Parlament gab, war von Anfang an klar. Doch anstatt auf Teile der Opposition zuzugehen, versuchte May, das Problem mit einer Neuwahl zu lösen. Sie verlor ihre Mehrheit im Parlament und war fortan auf die Unterstützung der DUP angewiesen. Die schwierige Frage, wie die Grenze zwischen Nordirland und dem EU-Mitglied Irland trotz Brexits in jedem Fall offen bleiben kann, war damit kaum zu lösen.
Das Parlament musste der Regierung wieder und wieder ein Mitspracherecht am Brexit-Kurs abtrotzen. May und die Hardliner in ihrer Partei schwangen sich zur einzig legitimen Auslegungsinstanz des Volkswillens auf. Wer sich dem in den Weg stellte, wurde von der Boulevardpresse zu „Volksfeinden“ erklärt.
Umfragen zeigen, dass das Land weiter in Befürworter und Gegner des Brexit gespalten ist. May kann nichts dafür, aber sie hat auch nichts getan, um die Spaltung zu überwinden. Zugeständnisse an Brexit-Gegner gab es nie.
Immerhin: Nach ihrer Niederlage signalisierte May die Bereitschaft zuzuhören. Sie werde sich mit ihren Parteifreunden, der DUP und Politikern aller Seiten treffen, um zu sehen, was nötig ist, um die Unterstützung des Parlaments zu sichern.