Jeremy Corbyn sieht seine Stunde gekommen

von Redaktion

Der Labour-Chef pflegt seinen ganz eigenen Stil – und eine seltsame Rolle im Brexit-Streit

London – Nach der historischen Schlappe von Theresa May richten sich viele Augen auf Oppositionsführer Jeremy Corbyn. Im Fall von Neuwahlen könnte sich der 69-Jährige Chancen auf das Amt des Regierungschefs ausrechnen. Wer ist der Mann, der sich mit einer klaren Positionierung in der Brexit-Debatte so schwer tat?

Corbyn war schon 2017 der eigentliche Sieger der von May angesetzten vorgezogenen Parlamentswahl. Er jagte der bis dahin mit absoluter Mehrheit regierenden May viele Stimmen ab und gewann für Labour 29 Sitze im Unterhaus hinzu. Vor allem Erst- und Jungwähler stimmten in Scharen für Labour – für den Parteilinken Corbyn war das Ergebnis sein bisher größter Erfolg.

Dass er für Überraschungen gut ist, hatte er bereits mit seiner Wahl zum Labour-Vorsitzenden 2015 gezeigt: Bei der Urwahl erzielte er knapp 60 Prozent der Stimmen – zum Entsetzen des noch von der Zeit unter Tony Blair geprägten Parteiestablishments. Der bärtige Abstinenzler und Vegetarier, der kein Auto besitzt, zeigt sich gern auf dem Fahrrad, im Plausch mit Nachbarn oder in seinem Schrebergarten. Als Hobby gibt er Marmelade-Einkochen an. Seine dritte, 20 Jahre jüngere Ehefrau, stammt aus Mexiko.

Dem Unterhaus gehört Corbyn bereits seit 1983 an, dort fristete er allerdings lange ein Dasein als Hinterbänkler. Größere Bekanntheit erlangte der überzeugte Pazifist als vehementer Kritiker des Premierministers Blair, der den USA in den Irak-Krieg folgte. Nach seiner Wahl zum Labour-Chef mutierte Corbyn zu einer Art Rockstar der Basis, er zog hunderttausende neue Mitglieder in die Partei. Dabei half ihm sein Image als liebenswerter Underdog, das der Vater dreier Kinder seither kultiviert.

Doch bei aller Euphorie – nach dem Brexit-Votum 2016 rumorte es in der Labour-Fraktion gewaltig: Viele Abgeordnete warfen Corbyn vor, sich nicht entschieden genug für einen Verbleib Großbritanniens in der Europäischen Union eingesetzt zu haben. Mehr als 80 Prozent der Fraktionsmitglieder entzogen ihm das Vertrauen, doch Corbyn lehnte einen Rücktritt ab. Dass seine Beliebtheit an der Basis ungebrochen war, zeigte die zweite Urwahl im September 2016 – 62 Prozent der Parteimitglieder stimmten für ihn.

Dennoch: Beim Brexit enttäuscht Corbyn die Hoffnungen vieler pro-europäischer Jungwähler. Er ist nicht gegen einen EU-Austritt, wirbt aber immerhin für einen „Jobs-First-Brexit“, der möglichst viele Arbeitsplätze im Königreich erhalten soll. Die meisten Labour-Abgeordneten sind pro-europäisch eingestellt. Sie spekulieren auf Neuwahlen oder ein zweites Referendum über den EU-Austritt. Corbyn sieht das skeptisch.

Einen Schatten auf den Chef werfen auch Ermittlungen von Scotland Yard wegen des Verdachts auf „antisemitische Hassverbrechen“ bei Labour. Corbyn räumte ein, die Partei habe ein „echtes Problem“ mit Antisemitismus. Dem Palästina-Aktivisten wurde selbst immer wieder dieser Vorwurf gemacht.

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