Rom – Mindestens 170 Tote, viele Vermisste, darunter Frauen und Kinder. Die schreckliche Bilanz von zwei Schiffbrüchen am Wochenende im südlichen Mittelmeer. Besonders das Drama um das gekenterte Flüchtlingsboot vor der libyschen Küste schockiert Italiens Öffentlichkeit. Es handelt sich um den ersten derartigen Vorfall seit Jahresbeginn.
Warum das Schlepperboot mit den Migranten an Bord überhaupt aus der Gegend um Misrata ausgelaufen ist, bleibt für die Behörden schleierhaft, denn das Wetter ist stürmisch: Ein Tief südwestlich von Sizilien schaufelt derzeit heftige Regefälle nach Norden, die See ist aufgepeitscht, der Wind böig. Doch wenn es ums schnelle Geld geht, nehmen die Menschenhändler offenbar jedes Risiko in Kauf. Menschenleben haben für sie, das zeigt die Tragödie einmal mehr, keine Bedeutung.
Viele Bürger zeigten sich bestürzt, in den italienischen Medien setzte sogleich eine Debatte um die Verantwortlichkeit ein. Im Fadenkreuz diesmal Lega-Chef Matteo Salvini, dem viele politisch die Schuld geben und seine harte Linie gegen Migranten in Frage stellen. Die Kritik kam dabei nicht nur aus Reihen der Oppositionsparteien. Auch Vertreter der Kirche und der Zivilgesellschaft stellten den Kurs des Innenministers in Frage und forderten mehr Menschlichkeit. Senatspräsidentin Maria Elisabetta Casellati etwa, selbst Mitglied der konservativen Forza Italia, mahnte: „Wir dürfen nicht zulassen, dass das Mittelmeer zum Massengrab wird.“ Die Regierung dürfe sich ihrer Verantwortung nicht entziehen.
Wohl zum ersten Mal in seiner Amtszeit als Innenminister sieht Salvini seinen Kurs der geschlossenen Häfen derart offen in Frage gestellt. Und so beeilte er sich, jegliche Befürchtung seiner Anhänger zu zerstreuen, er könne unter dem Druck der öffentlichen Meinung einknicken. Über Twitter erklärte er: „Ich war, bin und werde mich niemals zum Komplizen dieser kriminellen Schleuser machen, die ihre illegalen Einnahmen in Drogenschmuggel und Waffenhandel investieren. Genauso wenig jener Rettungsorganisationen, die sich nicht um Recht und Ordnung scheren.“ In einem Interview erläuterte der Innenminister seine Position näher: „Sobald ich nur eine einzige Ausnahme zulasse und nur ein Rettungsschiff mit Flüchtlingen anlanden lasse, geht sofort der gleiche Teufelskreislauf wieder los.“ Darauf würden die skrupellosen Schlepperbanden nur warten. Am Ende gewönnen die mafiösen Strukturen wieder die Oberhand und der ungebremste Flüchtlingsstrom über die zentrale Mittelmeerroute würde von Neuem beginnen.
Allen moralischen Einwänden zum Trotz: Salvinis Argumente sind schwer von der Hand zu weisen. Zwar hat sich der Druck auf die libyschen Küsten leicht verringert, doch gelöst ist das Migrationsproblem im nördlichen Afrika noch lange nicht. Der nächste Nervenkrieg bahnt sich bereits an: Gestern brachten die Aktivisten der „Sea Watch“ rund 50 Migranten von einem Schlauchboot in Sicherheit und meldeten sich bei den italienischen Behörden. Sie dürften bei Salvini auf Granit beißen.
INGO-MICHAEL FETH