München – „Wie konnte ich nur so dumm sein? Wieso habe ich diesen Menschen vom Fernsehen vertraut?“ Es war nur ein kurzer Moment, in dem sie unvorsichtig war und ein Interview gab, das ihr Leben wieder auf den Kopf gestellt hat. Anna Durizkaja war die letzte Frau an der Seite des Kreml-Kritikers Boris Nemzow. Gemeinsam mit ihm war sie am späten Abend des 27. Februars 2015 auf dem Heimweg vom Abendessen am Roten Platz, als in Sichtweite des Kremls der Mörder von hinten auf die beiden zuschritt und vier tödliche Kugeln auf den 55-Jährigen abfeuerte.
Nach den Schüssen verwandelte sich das Leben der damals 23-Jährigen in einen Albtraum. Bekannte beklagten, dass die hochgewachsene junge Frau kaum wiederzuerkennen war. Nichts sei übrig geblieben von ihrer Leichtigkeit. „Ich frage mich bis heute, ob es nur ein Versehen war, dass ich nicht mit erschossen wurde, dass ich noch am Leben bin.“
Direkt vom Tatort brachten zwei russische Sicherheitsbeamte in Zivil sie auf eine Polizeistation. „Ich musste aber ein Papier unterschreiben, dass ich nichts über all das sagen werde, das dort passiert ist.“ Langsam kämpfte sie sich ins Leben zurück. Traute sich wieder aus ihrer Wohnung, nachdem die Journalisten diese seltener belagerten.
Sie fasste ihren Mut zusammen und trat bei einem Schönheitswettbewerb auf. Da kam ein Journalist auf sie zu. Er sei von einem ukrainischen Fernsehsender, sagte er, und er wolle ein paar Fragen zu dem Schönheitswettbewerb stellen. Wie sie sich vorbereitet habe, wie sie sich schminke, wie sie sich fit hält. Alles ganz harmlos.
Als die Kamera an war, fing der Journalist plötzlich an, sie nach Nemzow zu fragen. „Ich hatte ihm schon vorher gesagt, dass ich zu dem Thema nichts sagen will, immer wieder, aber er hat es doch geschafft, ein paar Sätze dazu aus mir herauszuholen“, klagt sie. Nach einer Weile stand sie auf und ging. Zu spät, wie sich später herausstellen sollte. Das Filmmaterial landete beim Moskauer Kanal NTW, der zur Gazprom Media Holding gehört.
NTW macht daraus im September 2018 einen Film in seiner Reihe „Neue russische Sensationen“: „Nemzow. Die erste Beichte seiner letzten Geliebten“. Der Film war kaum gesendet, da stand Durizkajas Leben wieder kopf. Sie wird in dem 48-minütigen Streifen als Prostituierte dargestellt, als Lügnerin, als kaltblütige Agentin. Es werden Szenen gezeigt, als Durizkaja glaubte, die Kamera sei ausgeschaltet. Vor arglose Antworten wurden völlig andere Fragen gestellt. Was sie über ihre erste Liebe erzählte, klang in dem Film so, als beschreibe sie damit ihr Verhältnis zu Nemzow: „Wir haben Händchen gehalten“. Oder: „Nein, mit meinen Eltern habe ich ihn nicht bekannt gemacht.“ „War es Liebe?“, fragt die Stimme des Moderators, „oder nichts Persönliches, nur Business, im Auftrag des SBU“, des ukrainischen Geheimdienstes? Dann wird folgende Antwort Durizkajas eingespielt: „Wissen Sie, Sie stellen so viele Fragen, da wird mir unwohl.“ Die finstere Stimme des Moderators sagt: „Sie weicht der Frage nach ihrer wirklichen Rolle beim Mord aus.“
Das Ausmaß an Manipulation ist enorm. So heißt es unter anderem: „Die ukrainische Verführerin hat den russischen Oppositionellen in den Tod geführt. Warum haben die Killer sie am Leben gelassen? Stimmt es, dass in Kiew ein unbekannter Sohn Nemzows aufwächst?“ Weiter sind Sätze zu hören wie: „Sie war ein Escort-Girl“; „ein Abend mit ihr kostet 10 000 bis 15 000 Dollar.“ Alles deute darauf hin, dass sie es nur dem SBU, dem ukrainischen Geheimdienst, zu verdanken habe, dass sie noch lebe.
Die Nachricht vom Film sprach sich in Kiew schnell herum. Überall wurde mit dem Finger auf sie gezeigt, so empfindet es Durizkaja. Auch in Moskau sind viele von Nemzows Freunden entsetzt, glauben, Durizkaja habe gegen ein üppiges Honorar ihren toten Lebensgefährten und dessen Ideale verraten.
Durizkaja wollte NTW zuerst verklagen. Ein Anwalt riet ihr davon ab: „In Russland haben Sie keine Chance, die Gerichte sind gesteuert von oben.“ Der Journalist, der sie interviewte, beteuerte in den Gesprächen mit ihr, er sei selbst Opfer eines Betruges geworden. NTW antwortete nicht auf eine Presseanfrage zu dem Film.
Saur Dadajew, der Mörder Nemzows, wurde zu 20 Jahren Haft verurteilt, vier Mitangeklagte zu elf bis 19 Jahren Haft. In Oppositionskreisen herrschen bis heute große Zweifel: Die Behörden hätten nicht einmal versucht, nach den Drahtziehern zu forschen.
Durizkaja will nicht aufgeben. Sie macht eine Psychotherapie, will wieder als Model arbeiten. Sie hat ein eigenes, kleines Mode-Atelier eröffnet, parallel zum Psychologie-Studium, das sie bald abschließen will. Es sei ihr sehr schwergefallen, über all das zu sprechen, sagt sie. „Wenn die Menschen in Deutschland erfahren, wie böse mir mitgespielt wurde, wird sich die Wahrheit hoffentlich auch in der Ukraine und in Russland herumsprechen.“