München – Im Münchner Stadtrat dürfte heute munter diskutiert werden. Denn Oberbürgermeister Dieter Reiter (SPD) will die Fraktionen auf einen neuen Kurs in der Verkehrspolitik einschwören. Im Mittelpunkt soll der Mensch stehen, nicht das Auto. Grundlage ist das Projekt „Modellstadt 2030“. Kernaussagen: Das heutige Verkehrssystem ist nicht ausreichend zukunftstauglich, die Region braucht eine neue Vision von Mobilität. Im Gespräch mit unserer Zeitung erläutert Reiter, wie er sich die Zukunft vorstellt.
Worum geht es beim „Modellprojekt 2030“?
Um die Frage, wie Mobilität künftig aussehen muss. Die Quintessenz ist: In einer stark wachsenden Stadt muss unsere Priorität bei den Menschen sein, weniger beim Autoverkehr. Wir brauchen eine Stadt, die auch in Zukunft Lebens- und Aufenthaltsqualität bietet. Es ist notwendig, das jetzt anzupacken.
Der knappe Raum soll zulasten der Autofahrer neu verteilt werden?
Ganz zuvorderst steht: Mehr Platz für die Menschen. Wir sind 200 000 Menschen mehr geworden in den letzten zehn Jahren. Wer die Lebensqualität aufrechterhalten will, muss den öffentlichen Raum neu verteilen. Oberste Priorität hat für mich die Aufenthaltsqualität für die Bürger. Es gilt Räume zu schaffen, die attraktiv sind und dazu einladen, sich zu treffen. Plätze zum Leben. Aber auch die Mobilität dorthin muss gewährleistet sein. Es geht nicht um eine Konkurrenz der Mobilitätsformen, sondern um eine sinnvolle Priorisierung, die den Menschen gerecht wird. Wenn mehr Menschen mit dem Rad oder öffentlich fahren, wird auch wieder mehr Platz für die sein, die auf ein Auto angewiesen sind.
Ein Problem sind die letzten Kilometer zum Zielort.
Ja. Da geht es um den zunehmenden Lieferverkehr. Hier gibt es bereits interessante Ansätze. Kurze Strecken sind mit Lastenrädern gut zu bewältigen. Ich bin überzeugt davon, dass ein wesentlicher Prozentsatz der Autofahrten besser gebündelt werden könnte. Schauen Sie mal in der Früh in die Autos: Da sitzt meist nur eine Person drin. Da muss sich die Politik was einfallen lassen. Lassen Sie mal Busse Tag für Tag auf einer beschleunigten Spur an den Autos vorbeifahren, die im Stau stehen. Ich habe große Hoffnung, dass Autofahrer irgendwann sagen: Vielleicht sollte ich auch mal mit dem Bus fahren, da bin ich in der halben Zeit am Ziel.
Für den Bus brauche ich eine Spur – die ich den Autofahrern nehmen muss.
Stimmt. Aber genau diese Entscheidungen muss die Politik treffen. Ein Bus mit 70 Passagieren braucht nun mal weniger Platz als 70 Autos mit je einem Insassen.
Müssen die Verkehrsarten besser vernetzt werden?
Die Übergänge müssen besser werden. Wir brauchen mehr Park & Ride, möglichst unterirdisch. Wem die S-Bahn davonfährt, weil er keinen Parkplatz findet, fährt nicht gern öffentlich. Das gilt auch für den Umstieg von der Bahn aufs Rad. Da brauchen wir viel mehr Stellplätze.
Das braucht alles Zeit…
Wir reden nicht von morgen, sondern von 2030. Es ist durchaus realistisch, dass man bis dahin einen echten Kurswechsel schaffen kann – wenn man jetzt beginnt.
Heute wird das Projekt dem Stadtrat vorgestellt. Was werden Sie fordern?
Ich will alle Fraktionen dazu bewegen, sich konkreter als bisher zu äußern. Räume neu verteilen. Macht ihr da mit? Unter welchen Prämissen? Mehr Platz für die Menschen, weniger für den Verkehr, zum Beispiel eine autofreie Altstadt. Oder ein Busspurenprogramm, eine Seilbahn. Radschnellwege wie nach Garching, für die dann eben bis zu 900 Parkplätze wegfallen. Diese Fragen werde ich stellen und: Seid ihr da dabei?
Ihre Hoffnung?
Mir wäre wichtig, dass wir ein gemeinsames Ziel formulieren, das den Menschen in den Mittelpunkt stellt.
Erwarten Sie Widerstand?
Ich ahne, dass es Widerspruch bei einzelnen Maßnahmen geben wird. Aber genau das will ich auf den Punkt bringen. Dass man nicht nur abstrakt sagt, man wolle das Beste für die Stadt, aber im konkreten Fall dann gegen den Wegfall eines Parkplatzes oder einer Fahrspur stimmt.
Der öffentliche Nahverkehr kämpft ja ebenfalls gegen den Kollaps.
Viele würden ihn gern benutzen, wenn der Freistaat und die Bahn es nicht jahrzehntelang versäumt hätten, das System zukunftsorientiert auszurichten. Da widersprechen nicht mal mehr Landesminister der CSU, dass dies sträflich vernachlässigt wurde.
Bei U-Bahn und Tram hätte die Stadt auch früher reagieren können.
Der Nahverkehr in München funktioniert, auch wenn wir an die Kapazitätsgrenzen kommen. Es krankt doch vielmehr daran, dass viele nicht mehr S-Bahn fahren, weil sie unzuverlässig ist.
Trotzdem: Der U-Bahn-Ausbau hinkt hinterher.
Hätten wir vor 20 Jahren begonnen, neue U-Bahnen zu bauen, wäre ich auch glücklich. Ich hätte lieber U-Bahn-Linien eingeweiht, als sie jetzt zu bauen. Aber es ist so, wie es ist, und ich muss alles tun, was notwendig ist – obwohl es dafür nicht nur Beifall gibt.
Müsste der Bund mehr Finanzmittel bereitstellen?
Die Finanzierung des öffentlichen Nahverkehrs muss auf völlig neue Beine gestellt werden. Auch in den Unternehmen beginnt ein Umdenken. Bei BMW können Mitarbeiter statt einem Dienstwagen ein E-Bike wählen. Die Firmen haben erkannt, dass die Zukunft der Mobilität in Ballungsräumen langfristig nicht mehr der Verbrennungsmotor ist. Die Politik muss da mitziehen und jede Art umweltfreundlicher und platzsparender Mobilität fördern.
Muss die Politik mehr Mut auch zu unpopulären Entscheidungen haben?
Ja. Unpopuläre Entscheidungen treffen wir ja heute schon, zum Beispiel bei der Genehmigung großer Bauvorhaben. Auch bei der Mobilität ist es immer eine Frage der eigenen Betroffenheit. Die einen sind für mehr Parkplätze, die anderen für weniger. Politik muss den Mut haben, die Entscheidungen zu treffen, die sie für richtig hält. Dafür werden wir gewählt, das ist unser Auftrag.
Interview: Wolfgang Hauskrecht