Berlin – Die Stimme klingt brüchig. Zu Beginn seiner Rede zum Holocaust-Gedenktag im Bundestag entschuldigt sich Saul Friedländer (86) für sein Deutsch – „die Sprache meiner Kindheit, der ich mich nur sehr selten bediene“. Der in den USA und Israel lebende Historiker hat den Holocaust nicht nur erforscht – er ist einer der Zeitzeugen, der als Kind den Schergen Hitlers nur knapp entkam, während seine Eltern in Auschwitz ermordet wurden.
„Ich wurde zum denkbar schlechtesten Zeitpunkt – vier Monate vor Hitlers Machtergreifung – in Prag geboren“, so beginnen seine Memoiren. In der Gedenkstunde des Bundestags zur Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz durch sowjetische Truppen zitiert der 86-Jährige aus Tagebüchern und Briefen der 40er-Jahre, die belegen, dass „Millionen Deutsche spätestens 1943 von der systematischen Ermordung der Juden im Osten wussten“. Und er erzählt die Geschichte seiner Familie, die Deutsch sprach: „Das erste Lied, das ich auf dem Klavier spielen lernte, war: Ich hatt’ einen Kameraden.“
Vor den Spitzen des deutschen Staates und dem Bundestag bleibt Friedländer damit seinem Forschungsansatz treu: „Die Juden kamen ja meist nur als Opferzahlen vor. Ich wollte den Ermordeten ihre Stimme zurückgeben“, hat er in einem seiner Bücher geschrieben. Anders als Raul Hilberg, der Pionier der Erforschung der Vernichtungspolitik, hat Friedländer in seinem Standardwerk „Das Dritte Reich und die Juden“ nicht nur den mörderischen Vernichtungsapparat geschildert, sondern auch die Schicksale der Opfer.
Der Holocaust als Lebensthema: Der kleine Saul überlebte unter falschem Namen und als getaufter Katholik in einem Internat in Frankreich, erinnert er sich vor den Abgeordneten. Die Eltern wurden beim Versuch, von Frankreich über die Alpen in die Schweiz zu fliehen, von Schweizer Grenzern aufgegriffen und an die französische Polizei ausgeliefert. Er habe sich mit Händen und Füßen gegen die Trennung von ihnen gewehrt. „Was mag damals in ihnen vorgegangen sein“, frage er sich oft.
Es hat lange gedauert, bis er sich dieser Familiengeschichte stellte. Auf das Thema Holocaust kam er ausgerechnet bei einem Studienaufenthalt im Bonner Archiv des Auswärtigen Amtes, wo „ich Dokumente über Papst Pius XII. gefunden habe“. Er sei auch Jahrzehnte später hoch traumatisiert gewesen und leide noch heute unter Depressionen, schrieb er 2016. Erst seine Kinder hätten ihm geholfen, seine Gefühle wiederzuentdecken.
Beim persönlichen Rückblick allerdings belässt es Friedländer im Bundestag nicht: Er halte es angesichts des Holocausts für eine grundsätzliche moralische Verpflichtung, das Existenzrecht Israels zu verteidigen, sagte er. Dies müsse besonders in einer Zeit betont werden, „in der aufseiten der extremen Rechten und aufseiten der extremen Linken Israels Existenz infrage gestellt wird und der Antisemitismus in seinem traditionellen wie in seinem neuen Gewand wieder unübersehbar zunimmt“.
Antisemitismus ist nach seiner Einschätzung nur eine der Geißeln der heutigen Zeit. Auch „Fremdenhass, die Verlockung autoritärer Herrschaftspraktiken und ein sich immer weiter verschärfender Nationalismus“ hätten viele Länder befallen – ein Satz, bei dem auch die AfD-Fraktion zögernd Beifall spendet.