Washington – „Russland hat den INF-Vertrag jahrelang ohne Reue verletzt. Wir haben uns sechs Jahre lang bemüht, das Abkommen zu bewahren. Nun ist es unsere Pflicht, angemessen zu reagieren.“ Mit diesen Worten begründete gestern US-Außenminister Mike Pompeo vor Journalisten in einem kurzen Auftritt das, was sich seit Längerem abgezeichnet hatte. Von heute an gilt der 1987 geschlossene Vertrag zwischen der damaligen Sowjetunion und den USA zum Verzicht auf landgestützte atomare Mittelstrecken-Raketen offiziell als suspendiert.
In sechs Monaten wollen die USA die Vereinbarung endgültig und unwiderruflich verlassen, wenn Moskau bis dahin nicht einlenkt. Doch das erwarten Beobachter in Washington nicht – zumal Russlands Präsident Wladimir Putin schon vor Längerem erklärt hatte, der INF-Vertrag sei nicht mehr im Interesse seines Landes. Während es in den USA schon unter Trumps demokratischem Vorgänger Barack Obama die Debatte um eine Kündigung des Abkommens gab, macht jetzt Donald Trump bei dem Thema ernst.
Dass Verträge eingehalten werden müssten und es Konsequenzen für Verstöße geben müsse, seien „Grundprinzipien dieser Regierung“, führte gestern Pompeo weiter aus, der neben Sicherheitsberater John Bolton zu den „Falken“ in Washington gezählt wird. Man habe Russland ausreichend Zeit zum Einlenken gegeben und mehr als 30 Treffen zu dem Thema bis in die höchsten Kreise abgehalten. Im Dezember 2018 war Russland noch einmal formell abgemahnt und eine Frist von 60 Tagen gesetzt worden, die heute ausläuft. Die Vertragsverletzungen Russlands würden „Millionen Europäer und Amerikaner“ einem höheren Risiko aussetzen und zielten darauf, den USA eine militärische Benachteiligung zu verschaffen.
Moskau hat – das sehen Washington und die NATO-Partner für erwiesen an – seit 2014 neue Marschflugkörper mit der Bezeichnung 9M729 entwickelt. Russland hatte deren Existenz zunächst dementiert und später dann behauptet, diese hätten lediglich eine Reichweite von maximal 480 Kilometern. In den USA geht man jedoch von mindestens 2600 Kilometern aus, was fast alle Hauptstädte in Europa erreichbar machen würde. Das INF-Abkommen verbietet Raketen und Marschflugkörper mit einer Reichweite von 500 bis 5500 Kilometern.
Das Weiße Haus hatte bereits am Donnerstag die Nato-Partner über diplomatische Kanäle von der bevorstehenden Suspendierung informiert. Nun fühle sich Washington an die Verpflichtungen von heute an nicht mehr gebunden, wie Pompeo betonte. Russland habe sich „schamlose Verletzungen“ des Vertragswerks geleistet. Dennoch hofft der US-Außenminister, die Verbindungen zu Russland künftig verbessern zu können – und sei bereit, „auf allen Ebenen“ weiter über Rüstungskontrolle zu sprechen. Aber man werde auch „das tun, was das Beste für uns und unsere Alliierten ist“. Pompeo ging gestern nicht darauf ein, was die Pläne Trumps für einen militärischen Konter sein könnten und wie schnell man gegebenenfalls ein neues Mittelstreckensystem entwickeln und in Europa stationieren könnte. Jetzt beginnt erst die Debatte um die Akzeptanz eines solchen möglichen Schrittes. Der US-Präsident hatte als eine seiner ersten Amtshandlungen eine Modernisierung des Nuklearwaffenarsenals in Auftrag gegeben.
Die Verstöße Russlands gegen das INF-Abkommen dürften dem Weißen Haus nicht ungelegen gekommen sein. Denn wie schon Obama sieht auch Donald Trump längst China als wichtigsten geopolitischen Konkurrenten. Peking ist allerdings kein Mitglied des Abkommens und kann mit seinen Mittelstreckenraketen Verbündete der USA und amerikanische Stützpunkte in Asien erreichen. Eine freiwillige Selbstbeschränkung hat China, das Experten zufolge etwa 2000 Raketen und Marschflugkörper der INF-Klasse besitzt, bislang zurückgewiesen.