Berlin – Andrea Nahles hat es wirklich nicht leicht in diesen Tagen. Männer mit viel Testosteron ziehen über die SPD-Chefin her, von Gerhard Schröder bis Sigmar Gabriel. Sie rackert sich ab, um die SPD aus dem tiefen 15-Prozent-Tal herauszuholen. Sie sucht ein Projekt, dass ihr endlich Auftrieb verschafft. Und so wagt sie sich nun an das heißeste Eisen heran, sie will Schröders Hartz-IV-Reform „überwinden“ – doch der Befreiungsschlag könnte nach hinten losgehen.
Am Sonntag und Montag will sie den Kompass der Partei bei einer Klausur des Vorstands nach links ausrichten – das Herzstück des neuen Angebots an verloren gegangene Wähler: „Sozialstaatsreform 2025“ – es ist ein ziemlich teures Rütteln an Gerhard Schröders Agenda 2010.
Die SPD ist irgendwie auf Sinnsuche, um das Siechtum zu stoppen. Und auch, wenn viele ihr das nicht zutrauen und sie Probleme hat, ihr krawalliges Image in Teilen der Bevölkerung zu drehen, bekennt sich Nahles nun auch zu einer Kanzlerkandidatur. „Wenn ich mir eine Kanzlerkandidatur nicht zutrauen würde, hätte ich mich niemals um das Amt der SPD-Vorsitzenden beworben“, sagt sie in einem Interview mit dem Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND), in dem sie umfassend ihre Arbeitsmarkt-Reformvorschläge erläutert hat. Schröder hatte zuvor Nahles-kritisch angemerkt, Voraussetzung für eine Kandidatur sei ökonomischer Sachverstand. Die Versuche von Nahles, seine Hartz-IV-Reform in wichtigen Teilen zu schreddern, dürften ihn in seinem Urteil bestärken. „Wir wollen Hartz IV hinter uns lassen und ein neues Bürgergeld schaffen“, sagt Nahles.
Die zentrale Botschaft lautet: „Wir wollen das Arbeitslosengeld I verlängern. Die, die länger eingezahlt haben, sollen es auch länger bekommen.“ Wer 58 Jahre alt ist, kann heute 24 Monate ALG I beziehen. Es orientiert sich am letzten Lohn, wer zuletzt 2000 Euro brutto verdient hat, bekommt rund 820 Euro. Nahles will dies auf 33 Monate ausweiten. Doch das würde Unternehmen und Bürger Milliarden kosten. Und es könnte auch zu neuen Frühverrentungswellen führen, heißt es.
Langjährige Einzahler fallen bisher nach zwölf, spätestens 24 Monaten ALG I-Bezug auf das Hartz-IV-Niveau – derzeit beträgt der Regelsatz 424 Euro im Monat. Schröder wollte damit den Druck erhöhen, sich rasch eine neue Arbeit zu suchen. Auch wenn es sicher viele andere Gründe gibt, vor allem die Unklarheit, wofür die SPD steht, was ihre großen Zukunftsideen sind: Hartz IV gilt vielen als der Hauptgrund für den Absturz der Partei. Es dominiert die internen Debatten wie das Flüchtlingsthema heute Angela Merkels CDU-Kanzlerschaft prägt.
Bis heute leiden die Sozialdemokraten an Schröders Reformen, die auf den Vorschlägen des früheren VW-Managers Peter Hartz basierten. Sie prägten die Kanzlerschaft Schröders und werden bis heute von der Wirtschaft als eine der besten SPD-Maßnahmen gelobt, da sie halfen, Deutschland, den „kranken Mann Europas“, wieder auf die Beine zu bringen; zehn Jahre Wirtschaftswachstum wurden möglich.
Durchsetzbar mit der Union ist eine Reform in der Großen Koalition nicht. Und wie Finanzminister Olaf Scholz, auch ein Anwärter auf die SPD-Kanzlerkandidatur, damit bei der Wirtschaft um Stimmen werben soll, ist unklar. Zumal ein Scholz-Vertrauter, der Chef der Bundesagentur für Arbeit, Detlef Scheele, energisch davor warnt, das Hartz-IV-System umzukrempeln.
„Das Programm von Frau Nahles würde Deutschland zum Sanierungsfall machen“, meint CSU-Generalsekretär Markus Blume. Ingo Kramer, Chef des Arbeitgeberverbandes, betont: Die Vorschläge bauen keinerlei Brücken in Beschäftigung.