Berlin – Endlich mal ein guter Tag für die SPD-Chefin. „Sie sehen eine sehr gut gelaunte, positiv gestimmte Parteivorsitzende“, sagt Andrea Nahles am Sonntag im Willy-Brandt-Haus. Gerade hat der Vorstand einstimmig ihr Konzept „Ein neuer Sozialstaat für eine neue Zeit“ beschlossen. Es ist die Abkehr von den Hartz-Reformen Gerhard Schröders, der Nahles jüngst das Fehlen jeden ökonomischem Sachverstands attestiert hat.
„Wir können mit Fug und Recht sagen: Wir lassen Hartz IV hinter uns und ersetzen es nicht nur dem Namen nach“, sagt Nahles. Stattdessen soll ein Bürgergeld kommen. Mit weniger Sanktionen und staatlichem Zugriff auf Erspartes und Vermögen, mit mehr Qualifizierungsangeboten für Arbeitslose und: bis zu drei Jahre Bezug des Arbeitslosengeldes statt Abstürzen auf Hartz IV (424 Euro Regelsatz) für alle, die lange eingezahlt haben.
Nahles weiß, dass das Konzept in der großen Koalition erst mal nicht umsetzbar ist. CDU-Vize Volker Bouffier sagte: „Die SPD plant die Beerdigung der sozialen Marktwirtschaft“, sie fahre einen „strammen Linkskurs“. Doch reicht das zur Erneuerung? Zumal viele Genossen eher ein personelles denn inhaltliches Problem sehen – mit Namen Nahles.
Dennoch kommen die Vorstands-Mitglieder recht frohen Mutes zur Klausur ins Willy-Brandt-Haus, um die Weichen zu stellen für ein wichtiges Jahr. SPD-Generalsekretär Lars Klingbeil sagt, ein Jahr lang habe man in die Partei hinein gehorcht, rund 10 000 Vorschläge und Ideen ausgewertet. „Wir schauen nach vorn.“ Erfreut werden Umfragen herumgereicht, bei denen der rote Balken nicht mehr ganz so klein ist, auch wenn er über 17 Prozent nicht hinausreicht.
Das SPD-Konzept umfasst viele weitere Maßnahmen: Einen Mindestlohn von zwölf Euro, um Geringverdiener besser zu schützen. Mehr Flexibilität im Arbeitsalltag, etwa ein Recht, von zu Hause aus arbeiten zu dürfen („Homeoffice“). Und um die Kinderarmut zu mindern, soll es eine neue Kindergrundsicherung mit einer Leistung aus einer Hand geben. Bei der Finanzierung all dessen bleibt Nahles bisher vage.
Es ist der Versuch, durch Korrekturen Frieden zu machen mit dem Trauma von Schröders Agenda-Reform. Allerdings warnen wirtschaftsliberale Genossen davor, alles wieder zu sehr zurückzudrehen. Denn die SPD könnte in der Mitte mehr Wähler verlieren als links gewinnen.
Allerdings fällt auf, dass ausgerechnet jetzt ein Papier nach dem nächsten vorgelegt wird: Erst eines zu Verbesserungen für die Menschen im Osten (Angleichung Renten und Löhne), nun der Sozialstaats-Wurf. Dazu eine Rentenaufstockung um bis zu 447 Euro im Monat für Bürger, die wenig verdient, aber 35 Jahre lang Beiträge gezahlt haben. Die Grundrente steht zwar im Koalitionsvertrag, aber auch hier hakt es. Die Union will Bedürftigkeitsprüfungen.
61 Prozent der Deutschen finden die Grundrente gut. Doch auch früher schon wurden SPD-Pläne in Umfragen goutiert, aber das Kreuz woanders gemacht. Am 26. Mai stehen die Europawahl und die Wahl in Bremen an, wo die SPD erstmals das Rathaus verlieren könnte. Dann folgen Wahlen in Sachsen, Brandenburg und Thüringen, wo weitere Debakel drohen. Der nun versuchte Neustart ist die wohl letzte Chance für Nahles, die Wende zu erreichen.
Zuletzt hatten Ex-Kanzler Gerhard Schröder und Ex-Parteichef Sigmar Gabriel zur Treibjagd auf Nahles geblasen. Aber auch in den Wahlkreisen und der Bundestagsfraktion ist immer wieder zu hören: Mit Nahles sei der Niedergang nicht zu stoppen.
Es sind schwierige Zeiten für die SPD. Immerhin: Union und SPD grenzen sich scharf voneinander ab. Fast könnte man meinen, hier werde die Scheidung vorbereitet. GEORG ISMAR