München – Es war eine Reise, auf der Manfred Weber mehrfach beide Augen zudrücken musste. Oder wollte. In den menschenunwürdigen Baracken eines Flüchtlingslagers vor Budapest, zwischen Elend und Stacheldraht, befand der CSU-Politiker, hier sei keine Atmosphäre, in der man sich wohlfühle. Aber „die Mindeststandards werden eingehalten“. Wenig später stand Weber in der Hauptstadt neben dem schon damals heftig umstrittenen Regierungschef Viktor Orbán und setzte seine Charmeoffensive fort. „Orbán wird einseitig bewertet“, man müsse ihm zuhören. Und: „Er ist in der Mitte der Europäischen Volkspartei.“
Gut drei Jahre ist das her. Die Mitte scheint sich irgendwie verschoben zu haben seither. Im Umgang mit Orbán legt Weber nun strengere Maßstäbe an. In einem Interview mit dem „Spiegel“ fordert er das sofortige Ende der jüngsten Anti-EU-Plakatkampagne und eine öffentliche Entschuldigung. Er droht unmissverständlich mit einem Rauswurf der elf Abgeordneten aus der konservativen EVP-Fraktion. „Alle Optionen liegen auf dem Tisch.“ Orbán habe der EVP „schwer geschadet. Das hat eine neue Qualität, da reichen Appelle nicht mehr aus“.
Der Schwenk kommt nicht aus heiterem Himmel. Belastet ist die Beziehung Europa–Orbán schon lange. 2015 waren es die Sondersteuern auf ausländische Unternehmen, Überlegungen zur Todesstrafe, Angriffe auf die Pressefreiheit, die selbst Konservative in Europa zucken ließen. Es folgten weitere Provokationen, jüngst Orbáns Plakate, die Kommissionschef Juncker vorwerfen, er wolle illegale Migranten nach Ungarn senden. Eine „irrsinnige Verschwörungstheorie“, konterte Brüssel erregt.
Weber zögerte lange, wie er mit Orbán umgehen soll. Auch aus eigener Machttaktik. In ganz Europa musste er bis November um Unterstützung für seine Spitzenkandidatur buhlen. Er versuchte, möglichst wenig anzuecken. Also hielt er auch 2018 noch Kontakt mit Orbán. Nicht die einzige Verrenkung: Über Italiens Ex-Regenten Silvio Berlusconi, inzwischen rechtskräftig verurteilt, lobhudelte Weber Anfang 2018, dieser sei „ein großer Europäer und ein großer Staatsmann“.
Man darf bezweifeln, dass Weber das selbst glaubt. Er als glühender Pro-Europäer dürfte im Herzen einen anderen Kompass tragen. Doch auch jetzt, nach mit Riesenmehrheit errungener Spitzenkandidatur, kann er nicht frei entscheiden, mit welchen Konservativen er ein enges Verhältnis pflegen mag. Vor allem bei Orbán wird die Zwickmühle deutlich. Acht der 51 EVP-Mitgliedsparteien, darunter jene aus Belgien, Portugal, Finnland und Schweden, wollen die nationalkonservative Fidesz-Partei rauswerfen; das würde für ein formales Ausschlussverfahren genügen. Auch medialer Druck wächst. Die „Zeit“ analysierte vor wenigen Wochen, Weber habe nur noch die Wahl, ob er „als Bändiger von Orbán in die Geschichte der EU“ eingehe – „oder er wird von ihm kannibalisiert“. Weber weiß aber: Wirft er den Ungarn raus, gibt er den Populisten europaweit Auftrieb, schenkt ihnen praktisch einen Spitzenkandidaten. Weber klagt eh besorgt, dass sich Orbán Italiens und Polens Rechtspopulisten annähere.
Deshalb blieb es bisher bei Trippelschritten. Im September stimmte der Niederbayer für eine Resolution des Europaparlaments gegen Ungarn. Als CSU-Vize schob Weber seine Partei, bisher eifrige Orbán-Fans, weit auf Distanz. Gleichzeitig lässt die Union die Kontakte nicht ganz abreißen. CDU-Chefin Annegret Kramp-Karrenbauer empfing diese Woche diskret zwei Orbán-Vertraute in Berlin.
Spätestens am Mittwoch dürfte der Fall eskalieren. Weber steht auf dem Polit-Aschermittwoch in Passau voll im Rampenlicht, muss Klartext reden. Am selben Vormittag kommt die EVP-Fraktion zusammen, um über Orbán zu reden, am Nachmittag der Parteivorstand. Theoretisch wäre ein Rauswurf schon in den nächsten Wochen möglich. Hinter den Kulissen wird außerdem nach Zwischenlösungen gesucht, etwa einer Aussetzung der Mitgliedschaft auf Zeit.