London/Brüssel – Fünfzehn Tage vor dem Brexit-Datum ist nun doch plötzlich alles anders. Das britische Parlament hat den Sprung über die Klippe ins Ungewisse gestoppt – die Mehrheit will keinen ungeregelten EU-Austritt ohne Vertrag am 29. März mit Verwerfungen für die Wirtschaft und Unsicherheit für Millionen Bürger. Stattdessen will man die Europäische Union nun um eine Verschiebung bitten, so beschloss es das Unterhaus am Donnerstag.
Stimmen die übrigen 27 Staaten beim EU-Gipfel Ende nächste Woche zu, wäre das gefürchtete Szenario eines harten Bruchs vorerst abgewendet. Aber obwohl auch die EU einen Chaos-Brexit scheut, bleiben viele Fragezeichen. Brüssel rätselt noch, wie man am besten auf den Wunsch nach Aufschub reagiert. Viele EU-Politiker haben einfach die Nase voll von diesem alles erdrückenden Dauerstreit mit einem Mitglied, das gehen will, aber partout nicht weiß wie.
„Die Verhandlungen verlängern? Wozu?“, fragte diese Woche der stets beherrscht und emotionslos auftretende EU-Unterhändler Michel Barnier. „Die Verhandlungen nach Artikel 50 sind beendet. Wir haben einen Vertrag. Es gibt ihn.“ Nun müsse London auch sagen, was es wolle.
Konservative, Sozialdemokraten, Linke, Grüne im Europaparlament, von allen kommt die Forderung: Positioniert euch! Manfred Weber (CSU) verband dies mit einer Drohung: „Es gibt keine Option für eine Verlängerung (der Austrittsfrist), wenn wir keine Klärung auf der britischen Seite bekommen.“
Über die Fristverlängerung zu entscheiden haben die Staats- und Regierungschefs der 27 bleibenden EU-Staaten, und zwar einstimmig. Der französische Präsident Emmanuel Macron ließ bereits erklären, man könne die Verschiebung „unter keinen Umständen“ ohne eine alternative, glaubwürdige Strategie Großbritanniens akzeptieren. Das „Handelsblatt“ spekulierte über sehr harte Bedingungen der EU für einen Aufschub.
So oder so werde die EU aber am Ende wohl zustimmen, sagt Brexit-Experte Fabian Zuleeg vom European Policy Centre in Brüssel: „Ich kann nicht sehen, dass die Mitgliedstaaten Großbritannien gegen die Wand fahren lassen, das wäre politisch sehr schwierig zu verkaufen.“
Die entscheidende Frage ist nun: kurz oder lang? Die Wasserscheide ist die Europawahl, an der nach den EU-Verträgen alle Mitgliedstaaten teilnehmen müssen. Bleibt Großbritannien vorerst Mitglied, müsste es zur konstituierenden Sitzung des Parlaments am 2. Juli neugewählte Abgeordnete entsenden. EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker hat sich bereits klar geäußert. „Ich möchte betonen, dass der Austritt des Vereinigten Königreichs vor der Europawahl vom 23. bis 26. Mai dieses Jahres abgeschlossen sein sollte“, schrieb er in einem Brief an Ratschef Donald Tusk. Andernfalls müsste Großbritannien mitwählen. Auch Weber drückt aufs Tempo.
Ratschef Tusk positioniert sich anders. Er wolle im Kreis der EU-Länder für eine „lange Verlängerung“ werben, wenn Großbritannien ein Überdenken seiner Brexit-Strategie für nötig halte und einen Konsens dafür suchen wolle. Dieser Nachsatz ist natürlich einigermaßen nebulös – und für London möglicherweise eine entscheidende Hürde. S. KUSIDLO