Die wohl kostbarste Handschrift der Bayerischen Staatsbibliothek München sind die „Lieder aus Benediktbeuern“, darunter 130 lateinische Liebeslieder. Carl Orff hat einige davon als „Carmina Burana“ genial vertont. Niemand kennt die Autoren dieser vor 1250 im südlichen Raum des deutschen Sprachgebietes entstandenen dichterischen Perlen.
Einen Vers liebe ich vor allem wegen seiner Mischung von lateinischer mit mittelhochdeutscher Sprache:
„Stetit puella bi einem boume,
scripsit amorem an einem loube.
dar chom Venus also fram; caritatem magnam,
hohe minne bot sie ir manne“
„Es stand ein Mädchen unter einem Baum,
es schrieb seine Liebe auf ein Blatt.
Da kam unverzüglich Venus herbei.
Große Liebe, hohe Minne schenkte sie ihrem Manne“.
Ich stelle mir als Verfasser einen jungen Burschen von 16 Jahren vor. In seinem Klosterschulinternat, wo alles lateinisch ist, denkt er zurück an die letzten Ferien zuhause. Da hatte er einen Liebesflirt mit einem Mädchen aus dem Dorf unterhalb der Ritterburg seines Vaters. An sie denkt er nun, aber er nennt sie Puella – Mädchen. Dieses häufigste lateinische Wort liest er täglich in seinem Schulheft. Die jungen Verliebten aber trafen sich dort, wo alles vertraut und deutsch ist, „bi einem boume“ eben. Und das Mädchen tat das, was auch heute noch Verliebte tun, wenn sie ein Herz in eine Rinde ritzen. Es schrieb seine Liebe auf ein Blatt und sicher war es der Name des Geliebten, den sie schrieb. Da kam unverzüglich Venus herbei, die Göttin der Liebe selber und was sie schenkte, konnte unser Lateinschüler wieder nur lateinisch benennen „caritatem magnam“ – große Liebe.
In der letzten Zeile seines Gedichtes gehen die sehnsüchtigen Gedanken wieder in die vertraute Heimatsprache zurück mit den Worten: hohe minne bot sie ir manne. Bei Minne denkt er an den ritterlichen Hof des Vaters. Eine Minnedame dort lässt ihren Verehrer schmachten und warten. Ist nun dieses Mädchen aus dem Volke anders? Schenkt sie sich hin und zeigt so, was große Liebe ist und welchen Lohn wahrer Liebesdienst (Venusdienst) verdient?
Wir wissen es nicht, aber ich denke mir, dass unser Klosterschüler und seine Ferienliebe es vielleicht so erlebt haben, wie es auch bei uns war in der Jugend. Das Mädchen hat wohl seinen Namen geschrieben auf das Blatt oder ein Herz in die Rinde des Baumes geritzt. Venus ist gekommen und die beiden standen verliebt nah beieinander. Aber es war eben doch noch der scheue Abstand zwischen jung Verliebten. Da war kein „Tandaradei“ unter den Linden wie bei Walther von der Vogelweide. Dafür aber der Frühling des ganz jungen Lebens. Und unser Klosterschüler kann hoffen. Es gibt auch Weihnachten wieder Ferien, wo er zurück nach Hause kommen wird und wenn das Mädchen auf ihn gewartet hat. . .
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