München – Es gibt ihn, den idealen Präsidenten: in der Ukraine. Er heißt Wassili Goloborodko, war ein unscheinbarer Geschichtslehrer, der sich einmal nach dem Unterricht schrecklich über die korrupte Politik im Lande ausschimpfte. Ein Schüler filmte die Szene, sie wurde zum Hit auf Youtube, und der kleine Mann mit der heiseren Stimme zog ins Präsidialamt ein. Genauer gesagt blieb er auch als Staatschef in seiner alten Wohnung. Er schaffte seine Leibwache ab und radelte in den Dienst. Rund um die Uhr kämpft er gegen bestechliche Politiker, Beamte und Richter.
Der einzige Schönheitsfehler: Goloborodko ist keine reale Figur. Er ist der Held einer ukrainischen TV-Serie mit dem Titel „Sluga naroda“, auf Deutsch: Diener des Volkes. Doch das Märchen von der Mattscheibe, das zwanzig Millionen Ukrainer ansahen – fast die Hälfte der Bevölkerung –, könnte jetzt wahr werden. Goloborodko-Darsteller Wolodymyr Selenski tritt bei den Präsidentschaftswahlen am 31. März an – mit seiner eigens gegründeten Partei, die er so genannt hat wie seine Serie: „Diener des Volkes“. Der Vater eines Sohnes und einer Tochter führt die Wahlumfragen unangefochten an: Er kommt auf 34 Prozent, vor Amtsinhaber Petro Poroschenko mit 14 Prozent und der ewigen Herausforderin Julia Timoschenko mit 13 Prozent.
In der Serie, die sogar Netflix einkaufte, legt Selenski seine Finger genau in die Wunden der ukrainischen Politik: die Allmacht der milliardenschweren Oligarchen, zu denen auch der amtierende Präsident Poroschenko gehört. So überzeichnet die raffsüchtigen Politiker und Magnaten auf dem Bildschirm für westliche Zuschauer wirken mögen – viele Ukrainer erkennen in den Figuren die Realität wieder. Und sehnen sich nach einem tiefgreifenden Wandel.
Selenski verkörpert diese Hoffnung. Auch äußerlich wirkt der gelernte Jurist, der seine Frau seine „beste Freundin“ nennt und mit ihr alle wichtigen Entscheidungen berät, wie das Gegenmodell zum bis heute weit verbreiteten Apparatschik sowjetischer Prägung mit Greifinstinkt in die Staatskasse. Viele seiner Anhänger werfen Präsident Poroschenko vor, die Revolution verraten zu haben und weiter die alten Machtspielchen der Oligarchen zu betreiben. Während die Korruption weiter blüht, geht es großen Teilen der Bevölkerung heute wirtschaftlich deutlich schlechter als vor dem Maidan; entsprechend groß ist die Wut auf den Präsidenten.
Dessen Verteidiger machen geltend, angesichts der russischen Aggression habe der 2014 gewählte Staatschef gute Arbeit geleistet und das Land vor einem Zusammenbruch gerettet. Sie kritisieren, Selenski fehle die Erfahrung in der Politik; die sei in so schweren Zeiten für einen Präsidenten unverzichtbar.
Dabei macht gerade die Ferne zur Politik Selenski für viele Ukrainer so sympathisch. Zudem ist er nicht nur Komiker, sondern auch erfolgreicher Geschäftsmann, der es zu Wohlstand gebracht hat. Er führte als Topmanager gleichzeitig sechs Fernsehkanäle; zudem ist er Gründer und künstlerischer Leiter der Produktionsfirma „Studio Kwartal 95“, die auch „Diener des Volkes“ produziert. In Zusammenarbeit mit dem TV-Kanal „1 plus 1“, der wiederum dem Oligarchen Ihor Kolomojsky gehört. Dem sagen seine Gegner nach, dass er selbst für die Verhältnisse der ukrainischen Superreichen besonders skrupellos sei. Kritiker Selenskis unterstellen dem Kandidaten, er sei eine Marionette des Oligarchen. Der 41-Jährige weist das weit von sich. „Ich bin ein Mensch, der sich von niemandem steuern lässt. Die Einzigen, denen das manchmal gelingt, sind meine Kinder. Kolomojsky ist lediglich ein Geschäftspartner von mir“, beteuert er. Vor den Wahlen zeigt sich der TV-Star oft sehr ernst: „Ich will maximal fünf Jahre im Amt bleiben. Und nach meinem Gewissen arbeiten. Das mag jetzt pathetisch klingen. Ich bitte um Verzeihung.“
Nicht immer ist Selenski, der nach eigenem Bekunden im Alltag sehr zerstreut ist und oft etwas verliert oder liegen lässt, so staatstragend. Bei einem Auftritt in Berlin attackierte er einen Zuschauer. Viel friedlicher klingt Selenski, wenn es um den Krieg in seinem Land geht. „Ich bin gegen eine militärische Lösung. Menschenleben sind das Wichtigste“, beteuert er. Und dass er keine Probleme damit habe, sich mit Wladimir Putin an den Verhandlungstisch zu setzen. Solche Töne sind manchen Ukrainern zu moderat. Einige werfen ihm gar vor, ein Mann Moskaus zu sein.
Selenski sagt, er wolle den Menschen wieder eine Perspektive in der Ukraine bieten. Wie das gehen soll, bleibt im Vagen. Er spricht oft mehr über Moral als über Politik. Er verspricht aufzuräumen. Das Programm seiner Partei, die sich sozial-liberal und sozial-demokratisch nennt, ist aber gerade einmal vier Seiten dünn.