München – Der Niederbayer Manfred Weber (CSU) will EU-Kommissionspräsident werden. Sein sozialdemokratischer Gegenspieler ist Frans Timmermans aus den Niederlanden. Derzeit ist der 57-Jährige Vizepräsident der EU-Kommission. Ein Gespräch über den Brexit, Populisten und die Zukunft der Union.
Heute stimmt das britische Unterhaus wieder über die Alternativen zum Brexit ab. Was erwarten Sie?
Ich habe beim Brexit überhaupt keine Erwartungen mehr. Die Losung heißt: Nicht erwarten, sondern abwarten. Abwarten, was die Briten entscheiden. Wissen Sie, was ich wirklich bemerkenswert finde?
Was?
Dass die anderen 27 Staaten seit Tag 1 im Schulterschluss gehandelt haben. Alle hatten immer so einen Respekt vor der großen britischen Diplomatie. Heute merken alle, dass die keine Ahnung haben, was sie wollen. Aber die EU steht geschlossen.
Wächst in Ihnen nicht das Verlangen zu sagen: Geht mit Gott, aber geht!
Es gibt so viele Dinge, die liegen bleiben, weil wir nur noch mit dem Brexit beschäftigt sind. Viele Regierungschefs fluchen deshalb leise vor sich hin. Aber wir reden über das Schicksal Europas. So etwas wie den Brexit haben wir noch nicht erlebt. Und wenn wir das jetzt schlecht über die Bühne bringen, werden wir das viele, viele Jahre spüren. Eine unfreundliche Scheidung führt zu einem unfreundlichen Verhältnis über lange Zeit. Das können wir uns alle nicht leisten.
Eine der Alternativen, über die heute abgestimmt wird, ist ein zweites Referendum. Haben Sie noch leise Hoffnung, den Brexit zu vermeiden?
Ach, das müssen die Briten entscheiden. Aber komisch finde ich es schon, dass jetzt über eine vierte Brexit-Abstimmung im Parlament diskutiert wird, das Volk aber nur einmal abstimmen darf.
Gibt es etwas, dass Europa aus dem ganzen Schlamassel lernen kann?
Wieder einmal haben die Mitgliedsstaaten gezeigt, dass sie sich einigen können, wenn es wirklich drauf ankommt. Und dass sie füreinander einstehen. Einer für alle, alle für einen. Es war nicht selbstverständlich, dass alle an der Seite von Irland bleiben. Ein Schicksalsmoment der Europäischen Union, ein großartiges Signal an kleine EU-Länder: Wir stehen bei euch, wenn es schwierig wird.
Und ein gutes Argument gegen alle Populisten, die nur über nationale Interessen sprechen.
Es gab auch in den Niederlanden eine kleine Gruppe, die den Austritt wollte. Die sind seit dem Brexit sehr still geworden. Aber ich kann mit so Zahnarzt-Argumenten nichts anfangen: Es wird jetzt kurz ganz schrecklich, damit es später besser wird. Die Bürgerinnen und Bürger sollen sich nicht zu Europa bekennen, weil es weh tut, wenn man es verlässt – sondern weil man sich zuhause fühlt.
Einer, der sich nicht so zu Europa bekennt, ist Viktor Orbán…
Doch. Er bekennt sich sehr zu Europa, wenn’s um Geld geht. (lacht)
Sonst eher nicht so. Die EVP hat die Mitgliedschaft seiner Partei nun suspendiert. Reicht ihnen das?
Was die EVP macht, muss die EVP wissen. Ich werde als Vizepräsident der Kommission weiter auftreten, wenn er Verträge und Regeln verletzt. Aber das Thema lautet ja nicht nur Orbán.
Sondern?
Die junge Garde in der EVP hat keine Hemmungen, mit Rechtsradikalen zusammenzuarbeiten. Sebastian Kurz in Österreich regiert mit Heinz-Christian Strache von der FPÖ. Antonio Tajani in Italien will unbedingt mit Matteo Salvini eine Koalition bilden. Ich finde das schlimm. Ich frage: Was macht Manfred Weber mit den Parteien, die solche Koalitionen eingehen?
Auch Sie haben Probleme: Mit dem Rechtsstaat nehmen es die Sozialisten in Rumänien und auf Malta nicht so genau.
Richtig. Nur brauchen wir keine zehn Jahre, um das anzupacken. Ich telefoniere quasi täglich mit der rumänischen Ministerpräsidentin. Die Kommission wird in den nächsten Tagen mit den Rumänen verhandeln. Wenn das schief geht, werden wir hart auftreten – so, wie wir das mit Polen und Ungarn gemacht haben. Bei diesen Fragen bin ich politisch farbenblind. Wenn es Korruption oder Verstöße gegen den Rechtsstaat gibt, wird die Kommission klar auftreten.
Ein Thema der Populisten ist Migration. Es würde helfen, wenn man das Problem endlich löst, ohne auf die Hilfe der Orbáns und Salvinis angewiesen zu sein, die Grenzen und Häfen dicht machen.
Absolut. Aber wer verhindert das denn? Die Rechtsradikalen wollen gar keine Lösung des Problems, weil das ihre Wählerschaft antreibt. Die Lösung wurde von rechten Regierungen im Europäischen Rat verhindert, nicht von der Kommission.
Sie treten in schwierigen Zeiten an. In Deutschland schwächeln die Sozialdemokraten, in Frankreich sieht es noch düsterer aus.
Dafür stehen wir in Spanien oder Portugal gut da. Die Volksparteien stehen insgesamt vor enormen Herausforderungen. In Deutschland sehe ich uns aber auf einem guten Weg, seit sich die SPD wieder ohne Zweifel zum sozialen Thema bekennt. Ich spüre überall in Europa, dass diese Fragen zentral sind. Die arbeitende Mittelschicht – Krankenpfleger, Polizisten – erwarten von uns soziale Sicherheit. Das wird die große Aufgabe der Zukunft. Und wir werden sie bewältigen.
Interview: Mike Schier