London/Brüssel – Die EU und Großbritannien erwägen eine weitere Verschiebung des Brexits, um einen chaotischen Bruch zu vermeiden. Die britische Premierministerin Theresa May bat in einem Schreiben an EU-Ratschef Donald Tusk am Freitag um einen Aufschub bis zum 30. Juni. Tusk plädiert nach Angaben eines EU-Beamten für eine Verlängerung um bis zu zwölf Monate. Die Entscheidung dürfte beim EU-Sondergipfel am Mittwoch fallen.
Eine Hürde für die Verschiebung ist die Wahl zum EU-Parlament vom 23. bis 26. Mai. Wäre Großbritannien dann noch EU-Mitglied, müsste es Abgeordnete wählen lassen. Der vorgesehene Brexit-Termin 12. April ist der letzte Tag, an dem London die Wahl im Land einberufen könnte. Aus dem EU-Parlament und einzelnen Mitgliedstaaten kamen skeptische Töne. Hinterfragt wurde, ob eine weitere Verschiebung angesichts der verfahrenen Lage sinnvoll ist.
Großbritannien und die EU stecken tief in der Brexit-Krise, weil das britische Unterhaus den von May mit Brüssel ausgehandelten Austrittsvertrag bislang nicht angenommen hat. Ohne weitere Verlängerung droht ein Austritt ohne Abkommen. Nach dreimaligem Scheitern im Parlament hat May erst diese Woche Verhandlungen mit Oppositionschef Jeremy Corbyn aufgenommen. Die bisherigen Gespräche sind aus Labour-Sicht aber ernüchternd. Die Regierung sei bisher zu keinen Kompromissen bereit, sagte Labour-Brexit-Experte Keir Starmer.
Ausschlaggebend ist, ob es May gelingt, die EU-Staats- und Regierungschefs davon zu überzeugen, dass eine Verlängerung tatsächlich hilft, einen geordneten EU-Austritt zu erreichen. Führende EU-Parlamentarier reagierten zurückhaltend auf die Vorschläge Tusks und Mays. „Unsere Position ist klar: Keine Brexit-Verschiebung ohne Klärung“, schrieb der Fraktionschef und Spitzenkandidat der Europäischen Volkspartei, Manfred Weber (CSU), auf Twitter. Der Fraktionschef der Sozialdemokraten im EU-Parlament, Udo Bullmann, wandte sich gegen Mays Idee eines kurzen Aufschubs ohne Teilnahme an der Europawahl. „Es ist wichtig, dass UK unverzüglich Teilnahme an EU-Wahlen vorbereitet“, twitterte er.
Der Brexit-Beauftragte des Parlaments, Guy Verhofstadt, schrieb ebenfalls bei Twitter: „Allen in der EU, die geneigt sein könnten, die Brexit-Saga weiter zu verlängern, kann ich nur sagen: Passt auf, was ihr euch da wünscht.“ Er bezog dies auf die Ansage des Brexit-Hardliners Jacob Rees-Mogg, dass Großbritannien während einer Verlängerung „so schwierig wie möglich“ auftreten und EU-Entscheidungen blockieren sollte. Frankreich stuft den Vorschlag für eine Brexit-Verschiebung laut Nachrichtenagentur AFP als verfrüht ein.
Nach Tusks Vorschlag müsste Großbritannien an der Wahl teilnehmen. May warb für einen anderen Weg: Ihr Land würde eine Wahl vorbereiten, aber versuchen, vor dem ersten Wahltag mit einem ratifizierten Austrittsabkommen aus der EU auszuscheiden. Dann würde Großbritannien die Wahl absagen.
May schrieb in dem Brief an Tusk, es sei frustrierend, dass der Prozess noch nicht zu einem „erfolgreichen und geordneten Abschluss“ gekommen sei. Sollten die Gespräche mit der Opposition nicht zu einer Lösung führen, will May das Parlament erneut abstimmen lassen. An das Ergebnis werde sich die Regierung halten.
Die deutschen Steuerzahler müssten sich bei einem ungeregelten Brexit auf eine Finanzspritze von mehreren Hundert Millionen Euro an die EU einstellen. Haushaltskommissar Günther Oettinger sagte, „weniger als eine halbe Milliarde Euro“ müsste Deutschland dieses Jahr wohl zusätzlich übernehmen, falls Großbritannien ohne Vertrag aus der EU ausscheidet und keine EU-Beiträge mehr zahlt. Die Summe sei jedoch vergleichsweise klein.