Berlin/München – Dass das System Merkel erodiert, spürt in Berlin jeder. Von den Getreuen der Kanzlerin ist außer dem bereits abgewählten Fraktionschef Volker Kauder keiner davon so betroffen wie Wirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU). Der Schutz der Chefin ist weg, und nun beschießen die Kritiker den 60-jährigen Saarländer aus allen Rohren.
Die Attacken begannen im Dezember in Hamburg, unmittelbar nach der Wahl von Annegret Kramp-Karrenbauer zur CDU-Vorsitzenden. Altmaier hatte sich für seine saarländische Parteifreundin starkgemacht, offen gegen ihren Kontrahenten Friedrich Merz. Der ist der Liebling des Wirtschaftsflügels. Schon auf dem Parteitag hieß es, Merz müsse nun zur Entschädigung wenigstens Wirtschaftsminister werden. Kramp-Karrenbauer gab dem nicht nach („Ich habe durchgezählt und festgestellt: Das Kabinett war vollzählig“). Jetzt schlägt das Imperium zurück.
Die Speerspitze der Attacken bildet im Moment der Präsident des Verbandes der Familienunternehmer, Reinhold von Eben-Worlée, der in Hamburg dem Vorstand des CDU-Wirtschaftsrates angehört hat. In der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“ sagte er: „Altmaier hat das Wirtschaftsministerium beschädigt.“ Der Verband hat den Minister nicht als Redner zur Jahresversammlung Anfang Mai eingeladen, anders als zum Beispiel SPD-Chefin Andrea Nahles. Ein beispielloser Affront, zumal Altmaier der erste von der CDU gestellte Wirtschaftsminister seit über 50 Jahren ist.
Hauptkritikpunkt der Verbände sind die hohen Energiepreise. Altmaier war kurz Umweltminister und steht wohl auch deshalb unter Öko-Verdacht. Außerdem hat er gerade mit einer Expertenkommission den Kohleausstieg auf den Weg gebracht, der Strom noch teurer machen könnte. Das steht allerdings im Koalitionsvertrag.
Der zweite Punkt betrifft Altmaiers im Februar veröffentlichte Industriestrategie. Der Minister war und ist dafür, große europäische „Champions“ zu bilden und verweist gern auf das Beispiel Airbus, das erfolgreich gegen Boeing konkurriert. So war Altmaier für die von der EU-Kommission untersagte Fusion der Bahnsparten von Siemens und Alstom; er hat hier die Konkurrenz zu China im Auge. Auch will er mit staatlicher Hilfe eine große Batteriezellenindustrie in Deutschland und Europa aufbauen. Für den Hauptgeschäftsführer des Verbandes der Maschinenbauer, Thilo Brodtmann, trägt das alles „planwirtschaftliche Züge“.
Altmaier ist eine Frohnatur. Äußerlich unberührt eröffnete er gestern die Baumaschinenmesse in München. Heute will er bei einer internationalen Energiewendekonferenz im Berliner Außenamt sprechen. Der studierte Jurist ist Merkels Allzweckwaffe. Er war schon Innen-Staatssekretär und Kanzleramtschef. 2015 ernannte die Kanzlerin ihn zusätzlich zum Flüchtlingskoordinator.
Zur Häufung der Kritik dürfte auch beitragen, dass mit der Europawahl in Brüssel bald viele Jobs frei werden. Auch einer für Altmaier, vielleicht als EU-Kommissar? Altmaier ist noch immer beurlaubter EU-Beamter, Europa sein großes Thema. Die Merzianer wittern ein halbes Jahr nach ihrer Niederlage von Hamburg eine Chance, den Posten im Wirtschaftsministerium elegant frei zu bekommen – für ihr großes Idol. WERNER KOLHOFF