Brüssel/Berlin – Es sind noch genau 59 Stunden bis zum Austritt Großbritanniens aus der EU, als Bundeskanzlerin Angela Merkel am Mittwoch um 13 Uhr an das Rednerpult des Bundestags tritt. Zu diesem Zeitpunkt ist das jedenfalls geltende Beschlusslage. Noch. Längst ist so gut wie sicher, dass das Drama namens Brexit in die zweite Verlängerung geht. Die Frage ist da nur noch: Wie lange? Zwölf Wochen? Knapp neun Monate? Oder fast ein ganzes Jahr?
„Ich glaube, dass die Verlängerung so kurz wie möglich sein sollte“, sagt Merkel. „Aber sie sollte uns auch eine gewisse Ruhe geben, dass wir uns nicht alle zwei Wochen wieder mit dem gleichen Thema befassen müssen.“ Aus diesem Satz spricht eine gewisse Genervtheit der Kanzlerin, die wohl inzwischen fast jeder teilt.
Dafür ist die Stimmung allerdings überraschend gut, als Merkel im Kreis der (noch) 28 EU-Mitglieder in Brüssel auf die britische Premierministerin Theresa May trifft. Beide haben Blazer im gleichen Farbton gewählt: Ein leuchtendes Blau, so wie die Flagge der EU. Zufall? Die beiden haben an diesem Abend jedenfalls ein gemeinsames Ziel: Einen Chaos-Brexit ohne Abkommen verhindern – möglichst noch vor der Europawahl, die am 23. Mai beginnt. Sonst aber auch später.
Genau genommen ist es drei Wochen her, seitdem die 27 Staats- und Regierungschefs der anderen EU-Staaten Großbritannien einen ersten Aufschub bis zum 12. April gewährt haben. Es folgten die dritte Ablehnung des von May mit der EU ausgehandelten Austrittsvertrags durch das britische Parlament und erste Gespräche mit der Opposition. Was es bisher aber immer noch nicht gibt, ist der von der EU schon beim letzten Gipfel eingeforderte Plan, wie es weitergehen soll. Die EU hatte das zur Bedingung für einen Aufschub gemacht. Schon vor dem Gipfel sah es aber so aus, als würde es nun auch erst einmal ohne konkreten Plan weitergehen. Der Gipfel war bei Redaktionsschluss dieser Ausgabe allerdings noch nicht beendet.
Für die EU ist das eine Hochrisiko-Aktion – besonders mit Blick auf die Europawahl Ende Mai. Niemand weiß, wie sich die scheinbar endlose Hängepartie um den britischen EU-Austritt auf den Wahlkampf auswirken wird. Großbritannien wird an der Wahl teilnehmen müssen, wenn bis dahin das Austrittsabkommen für einen geregelten EU-Austritt nicht doch noch ratifiziert wird. 73 Sitze stünden dem Vereinigten Königreich zu. Damit könnten britische Abgeordnete zum Zünglein an der Waage werden, wenn es nach der Wahl darum geht, wer die größte Parteienfamilie wird. In einem Horrorszenario für die konservative Europäische Volkspartei (EVP), zu der auch CDU und CSU gehören, könnte die britische Labour-Partei dafür sorgen, dass die sozialdemokratische Fraktion die stärkste wird (siehe Kasten). Manfred Weber (CSU) müsste dann seinen Traum begraben, Nachfolger von Jean-Claude Juncker als Kommissionspräsident zu werden – stattdessen käme der Niederländer Frans Timmermans zum Zuge.
Damit zumindest die britische Regierung nicht auf die Idee kommt, Entscheidungen im Ministerrat zu torpedieren, soll sie sich vor einem Aufschub dazu verpflichten, bis zum EU-Austritt nicht mehr aktiv in EU-Entscheidungen einzugreifen. Relevant könnte dies bei den Verhandlungen über den künftigen EU-Finanzrahmen sein. Großbritannien müsse bis zum Austritt konstruktiv und verantwortungsvoll handeln und alles unterlassen, was das Erreichen der EU-Ziele in Gefahr bringe, hieß es.