Vatikanstadt – Am kommenden Dienstag wird Benedikt XVI. sein 92. Lebensjahr vollenden. Während immer wieder Gerüchte um seinen zunehmend schlechten Gesundheitszustand die Runde machen, zeigt der emeritierte Papst, dass er geistig hellwach ist und die aktuellen Ereignisse aufmerksam verfolgt. Die existenzielle Krise, in der sich die Kirche durch die endlose Skandalkette um Missbrauch und Pädophilie befindet, treibt ihn spürbar um. In einem ausführlichen Brief hat er nun seine Sichtweise zusammengefasst.
Gleich zu Anfang des Schreibens macht er seine Motivation deutlich: „Da ich selbst zum Zeitpunkt des öffentlichen Ausbruchs der Krise und während ihres Anwachsens an verantwortlicher Stelle als Hirte in der Kirche gewirkt habe, musste ich mir – auch wenn ich jetzt als Emeritus nicht mehr direkt Verantwortung trage – die Frage stellen, was ich aus der Rückschau heraus zu einem neuen Aufbruch beitragen könne.“ Zur Veröffentlichung habe er die Zustimmung von Papst Franziskus eingeholt.
In seinem Text zieht Joseph Ratzinger eine direkte rote Linie von der 68er-Bewegung und der damit einhergehenden „sexuellen Revolution“ zum sexuellen Missbrauch durch Kleriker. „Zur Physiognomie der 68er-Revolution gehörte, dass nun auch Pädophilie als erlaubt und als angemessen diagnostiziert wurde. Wenigstens für die jungen Menschen in der Kirche, aber nicht nur für sie, war dies in vieler Hinsicht eine sehr schwierige Zeit. Ich habe mich immer gefragt, wie junge Menschen in dieser Situation auf das Priestertum zugehen und es mit all seinen Konsequenzen annehmen konnten.“
Der weitgehende Zusammenbruch des Priesternachwuchses in jenen Jahren und die übergroße Zahl von Laisierungen seien eine Konsequenz all dieser Vorgänge gewesen, resümiert er. Zeitgleich hätte sich ein „Zusammenbruch der katholischen Moraltheologie“ vollzogen, der die Kirche hilflos gegenüber den Vorgängen in der Gesellschaft gemacht habe. So setzte sich weithin die These durch, schreibt Benedikt, dass dem kirchlichen Lehramt nur in eigentlichen Glaubensfragen endgültige Kompetenz zukomme; Fragen der Moral hingegen könnten nicht Gegenstand unfehlbarer Entscheidungen sein.
Heftige Kritik übt der Emeritus an Ausbildung und Lebensform in den Priesterseminaren. Dort sei es vor allem in den 70er- und 80er-Jahren zu negativen Auswüchsen gekommen. Viele gültige Normen seien über Bord gegangen. Dies hätte der Pädophilie den Boden bereitet. „Dass sich dies auch in der Kirche und unter Priestern ausbreiten konnte, muss uns in besonderem Maß erschüttern.“
Die Hirten mahnte Benedikt XVI., die Kirche von morgen nicht nach politischen Kategorien, sondern von Gott her zu formen: „Eine selbst gemachte Kirche kann keine Hoffnung sein.“ Die gewaltige Krise könne allein aus einer Erneuerung des Glaubens heraus bewältigt werden: „Eine Gesellschaft ohne Gott verliert das Maß.“ Ausdrücklich unterstützt Benedikt seinen Nachfolger: „Ich danke Papst Franziskus für alles, was er tut, um uns immer wieder das Licht Gottes zu zeigen.“ INGO-MICHAEL FETH