München – Es dauert über 20 Minuten, bis die Debatte das erste Mal Kontakt mit dem richtigen Leben aufnimmt. Am Mikrofon steht Corinna Rüffer, die behindertenpolitische Sprecherin der Grünen. Anders als ihre Vorredner begrüßt sie nicht nur Bundestagspräsident und Abgeordnete. „Ein ganz warmes Willkommen“ schickt sie auch „gerade heute an die Gäste auf den Tribünen“. Dorthin, wo Besucher mit Down-Syndrom sitzen und ihre Familien. Menschen, die aus eigener Erfahrung eine Menge erzählen könnten darüber, wie das Leben sich verändert, wenn ein Kind mit dieser Diagnose geboren wird.
Rüffer beklagt dann auch, dass zwar etliche Abgeordnete zu Wort kommen, dass aber „niemand mit Trisomie 21 von hier aus seinen Standpunkt erläutern kann“. Sie setzt damit den Ton in einer Debatte, die viele Facetten und Feinheiten hat und in der die Fraktionsdisziplin im Vorfeld aufgehoben wurde.
Das Plenum beschäftigt sich mit einem medizinischen Verfahren, das seit Jahren auf dem Markt ist und bisher von den Kassen nicht bezahlt wird. Ein Bluttest gibt schwangeren Frauen Auskunft darüber, ob ihr Kind am Down-Syndrom erkrankt ist. Während bei Risikoschwangerschaften eine Fruchtwasser-Untersuchung (Amniozentese) seit Jahrzehnten als Regelleistung anerkannt ist, steht dieser Schritt beim Bluttest noch aus. Die Tragweite ist enorm. Frauen könnten künftig ohne Kosten und Risiken den Fötus frühzeitig untersuchen lassen. Und – im Falle einer Behinderung – sich für eine Abtreibung entscheiden.
Die drei Minuten, die jeder Redner hat, sind nicht viel Zeit, doch die Tendenz ist klar. Mehrheitlich sind die Abgeordneten dafür, die Kosten zu übernehmen. Der SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach betont, dass ein Bluttest „schlicht und ergreifend viel besser“ und obendrein risikoärmer sei als die Untersuchung des Fruchtwassers, wo eine Nadel durch die Bauchdecke gestochen wird. Neben der medizinischen stellt sich ihm eine ethische Frage: „Kann ich den besseren Test Frauen vorenthalten und die gefährliche Amniozentese zumuten, wenn sie das Geld nicht haben?“
Der ethische Aspekt kommt in allen Beiträgen vor – allerdings meist in etwas anderem Kontext. Stephan Pilsinger, CSU-Abgeordneter aus München und selber Arzt, weist auf die „gesellschaftliche Sprengkraft“ hin. Er hat lange mit sich gerungen und befürwortet den Bluttest als Kassenleistung letztlich unter dem Vorbehalt, dass er „nur bei Risikoschwangerschaften übernommen wird“, für ihn ab der zwölften Woche. Werde das Verfahren auch davor zur Regel, drohe ein Szenario, das in etlichen Reden vorkommt, oft unter dem Schlagwort „Selektion“. Pilsinger warnt mit Nachdruck davor, biologische Anlagen so umfassend zu ermitteln, wie es die Technik womöglich erlaubt: „Hier wird der Mensch auf eine genetische Veranlagung reduziert, bewertet und eventuell verworfen.“
Vom „Recht auf Nicht-Wissen“ ist die Rede und von der Notwendigkeit einer besseren Beratung. Mehrere Parlamentarier wünschen sich eine „Willkommenskultur für alle Kinder“. Michael Brand, CDU-Abgeordneter aus Fulda, berichtet von einem jungen Mann, mit dem er sich angefreundet habe. Er leide unter dem Down-Syndrom. Ein Satz von ihm geht Brand nicht aus dem Kopf: „Ich finde total doof, dass ich eigentlich nicht leben soll.“