Kiew/Berlin – Direkt auf der Zielgeraden gerät Wolodymyr Selenski noch einmal ins Stolpern. Schuld daran ist genau das, was seine Gegner ihm am meisten vorwerfen – seine fehlende politische Erfahrung. Vor der Wahlurne hält der 41-jährige Komiker und TV-Unternehmer am Sonntag seinen ausgefüllten Wahlzettel in die Kameras. Nach dem ukrainischen Gesetz hat er damit das Wahlgeheimnis verletzt. Wenig später kommt schon die Polizei zu Selenskis Wahlkampfstab. Er muss ein Bußgeld zahlen.
Die Strafe kann der Frauenschwarm mit dem Hollywood-Lächeln verkraften, weil sie mit umgerechnet höchstens 50 Euro moderat ausfällt. Selenski, der aus einer russischsprachigen jüdischen Familie in der Industriestadt Krywyj Rih in der Südukraine stammt, wurde seinem Ruf, wie mit Teflon beschichtet zu sein, wieder gerecht: Auf bissige Nachfragen von Journalisten verwies sein Sprecher Dmitri Rasumkow darauf, dass doch die meisten schon mal eine Ordnungswidrigkeit begangen hätten – und Selenski als Präsident keine Sonderbehandlung in Anspruch nehme.
So glatt lief der gesamte Wahlkampf für Selenski: Mit 73,2 Prozent deklassierte er in der Stichwahl Amtsinhaber Petro Poroschenko. Der schwergewichtige Milliardär, der seinen Herausforderer um Kopflänge überragt, kam nur auf 25,3 Prozent und gab damit eine fast tragische Gestalt ab. Poroschenko, wegen des wirtschaftlichen Niedergangs und massiver Vorwürfe der Korruption und Vetternwirtschaft bei großen Teilen der Wähler sehr unbeliebt, schien die Niederlage erwartet zu haben: Als er am Wahlabend vor seine Mitstreiter trat, schienen weder er noch diese geschockt.
Zwei Tage vor der Wahl hatten sich die beiden Kandidaten im Kiewer Olympiastadion eine einstündige Debatte geliefert, einen groben Schlagabtausch teilweise unter der Gürtellinie. Selenski ging demonstrativ auf die Knie für die Angehörigen der Soldaten, die in der Ostukraine gefallen sind – der Krieg dort kostete fast 13 000 Menschenleben. Der Herausforderer forderte den Amtsinhaber auf, ebenfalls auf die Knie zu gehen. Das tat Poroschenko auch – allerdings drehte er den Zehntausenden Zuschauern im Stadion die Hinterseite zu und ging auf die Knie vor einer ukrainischen Flagge, die hinter ihm hing. Symbolcharakter – die Abwendung des Amtsinhabers von den Wählern.
Selenski vermied im Wahlkampf jede politische Festlegung – um für Wähler jeder Couleur akzeptabel und für seinen Gegner nicht greifbar zu sein. Er versprach nur, die Ukraine weiter an EU und Nato anzunähern, den Krieg in der Ostukraine zu beenden, die Korruption und die Oligarchen zu bekämpfen und den Lebensstandard der Menschen zu verbessern. Statt auf die traditionellen Medien setzte er fast ausschließlich auf soziale Netzwerke – und seine Bekanntheit als TV-Star in der Serie „Diener des Volkes“. Dort spielt er die Rolle, auf die er auch im Wahlkampf setzte: Einen Außenseiter, der durch Zufall Präsident wird, dann rund um die Uhr gegen bestechliche Politiker, Beamte und Richter kämpft.
Weniger aggressiv klang der Wahlsieger, wenn es um den Krieg ging. „Ich bin gegen eine militärische Lösung. Menschenleben sind das wichtigste“, beteuerte er. Und dass er keine Probleme damit habe, sich mit Wladimir Putin an den Verhandlungstisch zu setzen: „Wir müssen reden miteinander. Egal, ob wir wollen oder nicht. Entscheidend ist, dass kein einziger Mensch stirbt.“
Verlierer Poroschenko kündigte an, in der Politik zu bleiben. Für Selenski mag das ein erster Wermutstropfen sein – zumal die Mehrheitsverhältnisse im Parlament wohl kaum zu seinen Gunsten stehen, zumindest bis zu den Neuwahlen im Herbst.