Belfast – Brandsätze, die auf Polizeifahrzeuge fliegen, Schüsse auf Sicherheitskräfte in den Straßen von Londonderry. Was sich am Gründonnerstag in der nordirischen Kleinstadt abspielte, macht bewusst, wie fragil der Friede in dem Land noch immer ist. Eigentlich hatte die Terrororganisation IRA ihren bewaffneten Kampf gegen die britischen Sicherheitskräfte 2005 aufgegeben. Doch seit Anfang des Jahres reklamiert wieder eine Gruppe Anschläge für sich. Sie nennt sich: „Neue IRA“.
Sie bekannte sich zu den Schüssen, denen bei Ausschreitungen in Londonderry die junge Journalistin Lyra McKee zum Opfer fiel. Ein Versehen, teilte die „Neue IRA“ inzwischen mit. Die 29-Jährige, die gestern in Belfast im Beisein zahlreicher hochrangiger irischer, nordirischer und britscher Politiker zu Grabe getragen wurde, stand neben Polizisten, die man eigentlich habe treffen wollen. Auch zu einem Autobombenanschlag im Januar bekannte sich die Gruppe. Vier Morde seit 2011 werden ihr ebenfalls zugeschrieben. Etwa um diese Zeit soll sich die militante Gruppe gegründet haben.
Vieles erinnert an die Art und Weise, wie die IRA bis 1998 ihren blutigen Kampf gegen die als Besatzung empfundene britische Präsenz und die Unterdrückung der katholischen Minderheit durch die protestantische Bevölkerungsmehrheit führte. Und tatsächlich gibt es Verbindungen.
Die meisten alten IRA-Leute haben sich zur Ruhe gesetzt, einige von ihnen verdienen heute lieber Geld mit Schmuggel und Drogenhandel. Doch ein paar alte Kämpfer aus Splittergruppen der einstigen IRA haben das Karfreitagsabkommen, mit dem der Nordirland-Konflikt befriedet wurde, nie akzeptiert. Sie sahen vor einigen Jahren die Zeit reif, den bewaffneten Kampf wieder aufzunehmen. Als „Neue IRA“ schlossen sie sich zusammen und suchten nach Unterstützern. Sie fanden sie bei jungen Menschen, „die sich an den Konflikt nicht mehr erinnern, die sich abgehängt und immer noch unterdrückt fühlen und glauben, dass andere vom Friedensabkommen mehr profitieren“, sagt Terrorismus-Forscher Peter Neumann, der am Londoner King’s College lehrt.
Bis zu 200 Mitglieder soll die „Neue IRA“ haben. Auf breite Unterstützung in der Bevölkerung stößt sie auch im katholischen Bevölkerungsteil nicht, glaubt Nordirland-Kenner Neumann. Dennoch könnte sie den Konflikt weiter anheizen.
Einen Automatismus für eine Gewaltspirale gibt es nicht, sagt Neumann. „Die maßgeblichen politischen Kräfte haben daran kein Interesse“, glaubt er. „Es war bewundernswert, wie alle Anführer von radikal katholisch bis radikal protestantisch nach dem Tod der Journalistin gesagt haben, man wolle nicht zurück in die Zeiten der Gewalt.“ Doch Anschläge der „Neuen IRA“ könnten auf protestantischer Seite Angst schüren und das Bedürfnis wecken, sich zu bewaffnen.
Auch ehemalige Mitglieder radikal-protestantischer Milizen, die stets für einen Verbleib Nordirlands im Vereinigten Königreich waren, machen heute Geschäfte im Bereich der organisierten Kriminalität. „Kontakte, um Waffen zu besorgen und Know-how zum Bombenbau sind vorhanden“, sagt Neumann. Dann würden schon Missverständnisse reichen, um den alten Konflikt offen aufbrechen zu lassen. Darauf setze die „Neue IRA“.
Noch, so glaubt der Terrorismus-Forscher, würden sich genug Menschen an die alten, blutigen Konflikte erinnern. Sie würden durchschauen, welches Spiel die „Neue IRA“ treibe. Doch eine Trennung der Katholiken von Irland durch eine harte Grenze nach einem „No Deal“-Brexit oder auch eine Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage seien echte Gefahren für den Frieden.