Istanbul – Fast fünf Jahre liegen zwischen den beiden Videos – und sie verraten viel über den Niedergang des Anführers der Terrormiliz Islamischer Staat. Als sich Abu Bakr al-Bagdadi im Juli 2014 erstmals öffentlich zeigte, trat ein Mann auf, der Energie und Stärke ausstrahlte. Seine Kämpfer hatten gerade die nordirakische Stadt Mossul überrannt und die Welt in Schrecken versetzt. Al-Bagdadi stieg in Mossuls altehrwürdiger Al-Nuri-Moschee zur Freitagspredigt auf die Kanzel und schaute von oben auf seine Anhänger herab. Er sprach mit fester Stimme und bestimmtem Ton. Er hob den Zeigefinger zur Mahnung. Ein Mann auf dem Höhepunkt seiner Macht.
Fünf Jahre später ist von dieser Aura wenig geblieben. In dem jetzt verbreiteten neuen Video mit Abu Bakr al-Bagdadi hockt ein Mann im Schneidersitz auf dem Boden, der gealtert ist. Das Gesicht fülliger, fast aufgedunsen, der Bart grau und fast ungepflegt, die Stimme eher weich als energisch. Ob der mehrfach tot gemeldete IS-Chef unter Verletzungen leidet, ist nicht zu erkennen. Aber auch so lässt sich sagen: Abu Bakr al-Bagdadi, Ende 40, wirkt geschwächt, als er zu drei unbekannten Männern neben ihm spricht. Als einzige Insigne der Stärke lehnt hinter ihm eine Waffe an der Wand.
Alle Indizien sprechen dafür, dass es sich tatsächlich um Abu Bakr al-Bagdadi handelt. Den größten Raum nimmt eine Botschaft ein, mit der sich Al-Bagdadi an seine eigenen Anhänger wendet. Sie lautet: Bleibt standhaft, gebt nicht auf. Wie eine Selbstvergewisserung in einer schweren Krise. Man könnte auch sagen: Durchhalteparolen.
Das Reich des selbst ernannten „Kalifen“ liegt in Trümmern. Der IS hat sein Herrschaftsgebiet in Syrien und im Irak vollständig verloren, seitdem Truppen unter kurdischer Führung im Frühjahr dessen letzte syrische IS-Bastion Baghus einnahmen. Tausende Anhänger starben.
Der irakische IS-Experte Haschim al-Haschimi sieht in dem Video ein Zeichen der Schwäche, nicht der Stärke: „Al-Bagdadi versucht, dem Zorn und dem Schmerz, unter dem die Mitglieder der Organisation leiden, ein Ventil zu geben.“
Dazu dienen ihm auch die Terroranschläge auf Kirchen und Hotels in Sri Lanka, die der IS-Chef als „Rache für Baghus“ bezeichnet. Auffällig ist, dass er in diesem Teil des Videos nicht zu sehen, sondern nur seine Stimme zu hören ist. Das spricht dafür, dass er nachträglich aufgenommen wurde. Aber auch die restlichen Passagen sind aus jüngerer Zeit, denn er erwähnt aktuelle Ereignisse. So will Al-Bagdadi alle Spekulationen ausräumen, er sei längst nicht mehr am Leben.
Mit dem Video dürfte er auch das Ziel verfolgen, einen Zerfall der Terrormiliz zu verhindern und sich selbst als deren unangefochtener Chef zu präsentieren, als Kopf und Symbolfigur einer globalen Bewegung. Viel ist darüber spekuliert worden, ob er den IS noch anführt. Ein Bericht sprach sogar von einem Putschversuch.
Die klare Botschaft des Videos laute aber, „dass der Islamische Staat noch lebt und Al-Bagdadi weiter das Kommando hat“, sagt der Analyst Aron Lund von der in Washington ansässigen Denkfabrik Century Foundation.
Unklar bleibt weiterhin, wo sich Al-Bagadadi aufhält, der mit einem von den USA ausgesetzten Kopfgeld von 25 Millionen Dollar zu den meistgesuchten Terroristen der Welt zählt. Die meisten Experten vermuten, dass er in den Wüstengebieten des Iraks oder Syriens untergetaucht ist. Um nicht aufgespürt werden zu können, verzichtet er angeblich auf elektronische Geräte. Mit der Außenwelt soll er nur über enge Vertraute kommunizieren. Dass er im Video sein Gesicht zeigt, deutet darauf hin, dass er sich derzeit sicher fühlt.
Der Fokus des IS scheint sich derweil auf andere Regionen zu verlagern. Dafür könnte schon der muslimische Fastenmonat Ramadan ein Test sein, der nächste Woche beginnt. In früheren Jahren nutzte der IS ihn häufig für blutige Terrorangriffe.