Wien – An der Bürowand des Bundeskanzlers prangt eine Karte, die auch geografisch versierte Gäste regelmäßig verstört. Die Europakarte ist da fein säuberlich aufgehängt, Maßstab 1:60 000 000 und korrekt mit allen Staaten, Grenzen, Meeren – aber mit einem seltsamen Detail: Sie steht auf dem Kopf. Das Werk eines deutschen Künstlers begleitet Sebastian Kurz seit Jahren durch die Büros seiner Karriere, ermuntert ihn zu neuen Perspektiven. In diesen Tagen erscheint es mal wieder arg passend: Die politische Landschaft des Kontinents steht kopf.
Kurz nimmt also auf der Couch unter Norwegen Platz, schräg gegenüber, seitlich von Grönland, sitzt Markus Söder. Der Gast aus Bayern ist derzeit auf Südosteuropa-Tour, um sein politisches Bild neu zu vermessen, Kurz’ Büro ist Höhe- und Schlusspunkt der Reise. Es hat ja auch das Verhältnis zwischen Bayern und Österreich mehrere Drehungen hinter sich durch Firmen-Abwerbeversuche, Landesbank-Debakel und Migrationskrise. „Früher waren die Termine in Wien die schlimmsten“, schnauft Söder, heute zählt er sie zu den schönen. Das Verhältnis der Regierungschefs ist weit besser als nur formell: Auf Söders Tischkärtchen beim Frühstück im Kanzleramt steht zwar protokollarisch korrekt „Seine Exzellenz“, sonst schreiben sich Markus und Sebastian aber gern auch spätabends und frühmorgens SMS, berichtet der Bayer.
Tatsächlich schaut Söders CSU mit einer Mischung aus Neid und Skepsis auf den charismatischen Kurz. Er koaliert seit Dezember 2017 mit der FPÖ. Das ist der österreichische Ableger jener Parteienfamilie, die sich europaweit derzeit rechts von den Konservativen verstärkt formiert: Frankreichs Front National, die AfD, der Italiener Matteo Salvini, der am Donnerstag in Ungarn Ministerpräsident Viktor Orbán umschmeichelte. Söder hat diese Woche eine Grenze gezogen, wiederholt das vor Kurz: „Wir lehnen die Zusammenarbeit mit Rechtspopulisten ab.“
Kurz zieht die Grenze minimal weiter: „Ich halte nichts von einer Zusammenarbeit mit Parteien wie AfD und Le Pen, die aus Europa austreten wollen. Die haben sich selbst aus dem Spiel genommen.“ Die FPÖ erklärt einen EU-Austritt nicht zum Ziel. Nebenbei klagt Kurz – in sehr wohlgesetzten Worten – darüber, dass auf der linken Seite Bündnisse mit Kommunisten oder Griechenlands Tsipras-Linken keinen stören.
Kurz’ Koalition ist in unruhigem Fahrwasser. Nazi-Jargon und Hakennasen-Plakate von Lokal- und Landespolitikern der FPÖ, dazu verbale Attacken der FPÖ-Spitze auf den öffentlich-rechtlichen ORF sorgen für Schlagzeilen. Der Kanzler griff fallweise ein, wendet sich aber nicht generell von der FPÖ ab. Die Umfragen geben ihm recht: Seine ÖVP hat ihr Tief hinter sich gelassen, vergrößert den Vorsprung vor dem Partner und vor der SPÖ.
Gleichzeitig kann Kurz in der Koalition schrittweise sein konservatives Wahlprogramm abarbeiten. Spektakulärster Schritt ist die geplante Steuerreform, die im kleinen Land 8,3 Milliarden Euro Entlastungen bringt; die Wirtschaft wächst, die Arbeitslosigkeit sinkt, der toxische Streit um die Migration ist zumindest eingedämmt. Die Alpen-Koalition knirscht, arbeitet aber inhaltlich reibungsloser als Berlins GroKo.
Söder wählt Wien gezielt für einen Innenpolitik-Vorstoß. Im Ausland kündigt er am Freitag ein neues Steuerkonzept der CSU an, das in Teilen Kurz’ Modell ähnelt. Nach der Europawahl will er auf Parteiseite – vorerst ohne Absprache mit der CDU – vier konkrete Schritte vorrechnen. Der Solidaritätszuschlag soll komplett fallen, die Unternehmensteuer um fünf Punkte runter, die Stromsteuer soll sinken. Statt einer CO2-Steuer will Söder einen Kniff bei der eigentlich sachfremden Erbschaftsteuer: Wer Immobilien erbt und binnen zehn Jahren energetisch saniert, soll weniger bis gar keine Steuer zahlen.
Söder ordnet seinen Plan europaweit ein. „Österreich macht die größte Steuerreform der jüngeren Geschichte, wird als Standort eine echte Herausforderung für uns.“ Als noch größeren Konkurrenten macht er die Briten aus: Nach einem Brexit sagt er extreme Niedrigsteuersätze und Deregulierung im Finanzsektor voraus. In Europa könnte, glaubt er, noch mehr ins Rutschen kommen, als Kurz’ Karte vermuten lässt.