München – „Beim Brexit gibt es nur Verlierer“, sagt der Mann, der seit rund zwei Jahren mit erstaunlicher Gelassenheit das Chaos innerhalb der Londoner Regierung von Theresa May erträgt und mit großem Erfolg als Verhandlungsführer der 27er-EU deren Einheit erhalten hat. Es gibt daher nicht wenige, die in Michel Barnier den einzigen Gewinner des Brexits sehen – und zwar im Hinblick auf seine (un-)heimlichen Ambitionen auf das Amt des EU-Kommissionspräsidenten.
Die TU München und die Pariser Business-School HEC haben den Franzosen zum Auftakt ihrer „European Week 2019“ eingeladen, um junge Studenten für die Bedeutung der Europawahl zu sensibilisieren. „Die junge Generation ging beim Brexit-Referendum im Juni 2016 nicht genügend zur Wahl“, nennt Gastgeber Prof. Joachim Henkel zur Begrüßung im vollbesetzten Audimax der TU ein Beispiel für die Folgen mangelnden Interesses an der Politik.
Barnier ruft die Studenten auf, nicht nur in der Zuschauerrolle zu verharren: „Entweder Sie engagieren sich und verändern die Politik – oder die Politik verändert Sie“. Ein Zitat des früheren amerikanischen Präsidenten Barack Obama benennt das Dilemma: „Ihr lasst euch von Oma und Opa nicht vorschreiben, welche Kleidung ihr tragen sollt. Wollt ihr sie entscheiden lassen, in welcher Welt ihr leben werdet?“ Barnier sieht viele Gründe, sich für Europa einzusetzen, die wichtigsten zwei benennt er ganz einfach: USA und China. Die Entwicklung in der Welt zeige deutlich, dass die Nationalstaaten in Europa, allein auf sich gestellt, auf lange Sicht global keine Chance mehr haben werden, sich zu behaupten, so der Franzose: Gehörten 2016 noch vier europäische Staaten (Deutschland, Frankreich, Großbritannien und Italien) zu den wichtigsten acht Industriestaaten der Welt, so wird dies 2050 nur noch der 27er-EU als Einheit gelingen, in der Weltspitze mitzuspielen. Was muss Europa also tun?
Barnier nennt vier große Aufgabenbereiche. Erstens: Im Klima- und Umweltschutz seien die Ziele CO2-Neutralität, Kampf gegen Microplastik, Kreislaufwirtschaft und der Umbau der Landwirtschaft. Nicht gegen, sondern mit den Bauern, wie der mit einer starken Bauernschaft gesegnete Franzose betont.
Zweitens: Die technologische Entwicklung im Bereich Künstliche Intelligenz und Digitales. Heute, gibt Barnier den Studenten zu bedenken, sei unter den Top 15 der Digital-Unternehmen der Welt kein einziges europäisches.
Drittens: Verteidigung und Sicherheit. Barnier wirbt für eine europäische Armee: Europa dürfe seine Verteidigung nicht „outsourcen“, sondern müsse sie in die eigenen Hände nehmen. Und viertens: In der Migrationsfrage gelte es nicht nur, Europas Grenzen durch den Ausbau von Frontex zu schützen, sondern auch diejenigen Menschen, die tatsächlich ein Recht auf Asyl in Europa haben. Zudem müsse es eine starke Partnerschaft mit Afrika geben. Diese Ziele müsse Europa als vereinte EU, nicht aber als uniforme, erreichen, macht Barnier klar. „Ich möchte keinen europäischen Staat bauen, sondern jede Nation hat ihre eigene Identität, die man bewahren muss.“ ALEXANDER WEBER