Istanbul – Irgendwann kurz vor Mitternacht hallt ein metallisches Klopfen und Klingeln durch die dunklen Straßen. Aus allen Richtungen scheint es in manchen Vierteln von Istanbul zu kommen, minutenlang hält es an. An geöffneten Fenstern stehen Menschen und schlagen auf Töpfe und Pfannen. Sie wollen ihre Wut kundtun. Gerade hatte die Wahlbehörde die Annullierung des Siegs von Ekrem Imamoglu, Bürgermeister der Mitte-Links-Partei CHP, verkündet. Es war ein Gänsehautmoment. Es war auch ein unheilvolles Zeichen. Diese Art des lautstarken Protests erinnert an die großen regierungskritischen Gezi-Proteste von 2013. Die hatte die Regierung blutig niederschlagen lassen.
Was erwartet die Türkei nach der Entscheidung der Wahlkommission YSK, die Wahl in Istanbul zu wiederholen, kaum dass die Opposition den wichtigen Posten ergattert hatte? Längst ist das Gezerre um das Bürgermeisteramt zur Parabel geworden für die Frage, wie es mit der Demokratie im Land weitergeht. In den Augen vieler ist sie Montagnacht endgültig verendet. Der Schuldige: Präsident Recep Tayyip Erdogan, der zuletzt den Druck auf die Wahlkommission erheblich erhöht hatte. Empörung und Sorge sind spürbar in der Opposition, aber auch unter Politikern in Deutschland und anderswo. Ein Vorwurf: Da wird gewählt, bis es passt.
Selbst altgediente Türkeikritiker hatten aufgemerkt angesichts des unerwarteten Erfolgs des Oppositionspolitikers Imamoglu bei der Kommunalwahl am 31. März. Sollte die so oft totgesagte türkische Demokratie doch noch da sein? Jetzt setzt die Resignation wieder ein.
Anfangs hatte Erdogan noch durchaus einsichtig gewirkt. In seiner Rede gleich nach der Wahlniederlage in Istanbul hatte es sogar selbstkritische Töne gegeben, obwohl die AKP landesweit stärkste Partei geworden war. Später aber stieg der Druck, bis Erdogan am Samstag vor der Entscheidung sagte, es habe bei der Wahl Makel und Korruption gegeben. Diese zu beseitigen, werde die Wahlkommission und die Nation erleichtern. Was den Präsidenten veranlasst haben könnte, den Druck auf die Wahlbehörde so zu verstärken, bleibt unklar. Machterhalt um jeden Preis? Die Konsequenzen könnten zerstörerische Kraft entwickeln.
Konsequenzen gibt es etwa für die türkische Wirtschaft. Märkte und Investoren hatten das Gezerre um die Wahlergebnisse misstrauisch beobachtet – sie mögen politische Unsicherheit nicht. Am Morgen nach der Entscheidung rauschte erwartungsgemäß die Börse ab – der Leitindex fiel am vierten Handelstag in Folge. Die Gewinne seit Jahresbeginn sind damit futsch. Dann fiel die Lira, die seit Monaten an Wert verliert, noch ein wenig weiter und landete am tiefsten Punkt seit Oktober.
Zur Wut der Opposition und der Kritik aus dem Ausland trägt bei, dass die Argumentation der Wahlbehörde auch am Tag nach der Wahl nicht im Detail bekannt ist. Bisher weiß man lediglich, dass es ihr darum ging, dass die Teams an den Wahlurnen entgegen der Vorschriften nicht alle Staatsbedienstete waren. Das wirft allerdings gleich zwei Fragen auf. Nummer eins: Wieso sind dann nicht auch die anderen Wahlgänge entwertet worden, die von den gleichen Teams bearbeitet worden waren? Zum Beispiel die für die Bezirksbürgermeister? Etwa, weil die AKP da groß gewonnen hatte?
Nummer zwei: Folgt man der Argumentation der AKP und der YSK, dass die gesetzeswidrige Zusammensetzung der Teams das Wahlergebnis entwerten muss, dann sollte das auch für die Ergebnisse der Präsidentenwahl im vergangenen Sommer gelten, die Erdogan im Amt bestätigt hatte. So argumentiert zumindest Imamoglu. Der stets freundliche Oppositionspolitiker, der im Wahlkampf auf Schärfe verzichtet hatte, zeigt nun, dass er auch kämpfen kann. „Wir sind die türkische Jugend, die nach Gerechtigkeit dürstet und die fest an die Demokratie glaubt“, rief er. Sein neuer Slogan ist: „Alles wird gut.“