„Schweigen war mein größter Fehler“

von Redaktion

Zwei Wochen vor der Europawahl blickt EU-Kommissionspräsident Juncker zurück und voraus. Er lobt sich selbst, mahnt seine Nachfolger. Und richtet einen Appell an alle europäischen Wähler.

VON VERENA SCHMITT-ROSCHMANN

Brüssel – Jean-Claude Juncker hat es durchgestanden. Das gilt, wenige Monate vor seinem Ausscheiden, für seine Amtszeit als Kommissionspräsident einer von Krisen geschwächten Europäischen Union. Aber es gilt auch für diese seltsam farblose Präsentation seiner Bilanz gestern in Brüssel. „Okay, bye-bye“, sagt der 64-Jährige am Ende, lächelt kurz und geht etwas wacklig, in kleinen Schrittchen durch die hohe Tür des Pressesaals im Kommissionsgebäude Berlaymont.

Die Kommission – jene mächtige Behörde mit rund 33 000 Mitarbeitern, die der Luxemburger seit 2014 führt – hat Junckers „solide Erfolgsbilanz“ bereits vorab auf Hochglanz ausgearbeitet: 80 Seiten, 20 Erfolge, 10 unerledigte Aufgaben, übergeben an die EU-Staats- und Regierungschefs, die sich morgen bei einem Sondergipfel im rumänischen Sibiu über die „strategische Agenda“ für die nächsten Jahre beugen. „Stärke in Einigkeit“ steht über Junckers Ausblick auf die gemeinsame Zukunft.

Es ist wohl eher Wunsch als Wirklichkeit. Denn nach den Fährnissen der vergangenen Jahre ist die EU selbst ziemlich wacklig auf den Beinen. Die Wirtschaftskrise, der Fast-Rauswurf Griechenlands aus dem Euro, der große Flüchtlingstreck und schließlich die Entscheidung der Briten für den Austritt: Juncker hat die EU durch schwierige Jahre begleitet. Einige Risse sind noch tiefer als zu Beginn seiner Amtszeit – der Streit mit den östlichen Staaten wie Polen, Ungarn oder Rumänien über Rechtsstaatlichkeit, das tiefe Misstrauen gegen Brüssel in Italien oder Griechenland. Und es ist bei Weitem noch nicht ausgemacht, wie es mit der EU insgesamt weitergeht. „Wir müssen ehrgeiziger und konzentrierter sein als je zuvor“, appelliert Juncker an seine Nachfolger und betont, dass er dafür ja eine gute Vorlage gegeben habe. „Ich habe am Anfang gesagt: Wir haben drei Prioritäten: Jobs, Wachstum und Investitionen. Das haben wir gemacht. Wir haben unsere Versprechen gehalten.“ 471 neue Gesetzesvorschläge, von denen 348 tatsächlich beschlossen wurden. Nicht jede Kleinigkeit regeln, sondern die großen Probleme anpacken: „Das haben wir gemacht.“

Juncker unterstreicht vor allem die wirtschaftliche Erholung, die geschätzten 400 Milliarden Euro neuer Investitionen aufgrund seines „Juncker-Plans“, hunderttausende neue Jobs. „Den Menschen in Europa geht es eigentlich besser“, fasst der Kommissionschef zusammen. Aber er weiß selbst auch: „Nicht jeder merkt das, weil Reichtum und Wohlstand unterschiedlich verteilt bleiben.“ Die Lage ist besser als die Stimmung, auch das ist Junckers Botschaft.

Als der Christdemokrat 2014 startete, sprach er von der „Kommission der letzten Chance“, damals unter dem Schock der Wahlerfolge rechtspopulistischer Parteien bei der Europawahl. Eine „politische Kommission“ wollte er führen – als langjähriger luxemburgischer Premierminister fühlte er sich ohnehin auf Augenhöhe mit den europäischen Staats- und Regierungschefs. Und am Ende lässt sich sagen: Die EU ist zumindest nicht auseinandergeflogen.

Das gilt für die unendliche Debatte über den Brexit – keiner der übrigen 27 Staaten zieht heute einen Austritt ernsthaft in Erwägung. Aber zum Thema Brexit räumt Juncker offen den größten politischen Fehler seiner Amtszeit ein: dass er sich vor dem Brexit-Referendum in Großbritannien nicht in die Austrittsdebatte eingemischt und geschwiegen habe. Der damalige britische Premierminister David Cameron habe ihn gebeten, nicht einzugreifen, sagt Juncker. „Das war ein Fehler.“ Denn nur Brüssel habe die Möglichkeit gehabt, „die Lügen zu zerstören“, die vor der Volksabstimmung verbreitet worden seien.

Auf die Frage nach seinem größten Erfolg nennt Juncker ohne Zögern: dass die Kommission das hoch verschuldete Griechenland in der Eurozone gehalten habe.

Die politischen Fliehkräfte in Europa sind nicht geschwunden, eher im Gegenteil. Auch vor der Europawahl werden EU-kritischen Parteien deutliche Erfolge vorhergesagt. Juncker ist dies sehr bewusst, er richtet einen dramatischen Appell an die europäischen Wähler: „Wenn jeder für Extremismus stimmen würde, wie würde Europa tags darauf aussehen?“

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