Wechselt Merkel nach Brüssel?

Chance auf einen würdigen Abschied

von Redaktion

MIKE SCHIER

An Angela Merkel haben sich schon Generationen ambitionierter Hauptstadtkorrespondenten die Zähne ausgebissen. Die Kanzlerin vermeidet es, über Stöckchen zu springen, die ihr Fragesteller hinhalten. Interviews werden selten gewährt, das Gesagte wägt sie sorgsam ab. Wer die zuweilen umständliche Kanzlerinnen-Rhetorik zu lesen gewohnt ist, geriet deshalb bei ihren jüngsten Äußerungen in helle Aufregung. Als die Kanzlerin ein „noch einmal gesteigerten Gefühl der Verantwortung“ für Europa ansprach, klang das in den Ohren der Merkel-Deuter wie eine Bewerbungsrede. Gestern folgte dann ein sehr hartes Dementi, das recht glaubwürdig klang. Menschen mit Elefantengedächtnis erinnern sich aber auch noch daran, wie Merkel eine Ämterteilung ausschloss. Kurz darauf wurde AKK neue CDU-Chefin.

Tatsache ist: Aus Berliner Sicht spricht sehr, sehr viel für einen Wechsel der Kanzlerin. Erstens weil das Land frischen Wind gebrauchen könnte. Zweitens bietet sich streng genommen jetzt ihre letzte Chance, das Amt selbstbestimmt und ohne Ansehensverlust zu verlassen. Zumal einem die Fantasie fehlt, Merkel könne nach ihrer Amtszeit in die Wirtschaft wechseln, als Elder Stateswoman kluge Ratschläge erteilen oder sich gar zum Wandern in die Uckermark zurückziehen. Nein, auch mit 64 Jahren wirkt der Merkelsche Gestaltungsdrang ungebrochen. Die EU böte eine neue Spielwiese. Übergibt sie in den nächsten Wochen, wäre zudem ihre Wunsch-Nachfolgerin Annegret Kramp-Karrenbauer noch stark genug, um interne Konkurrenten auszustechen. Noch!

Schöner Nebeneffekt: Die SPD würde einmal mehr in arge Nöte gestürzt. Wechselt Merkel nach Brüssel, wirkt das wie höhere Gewalt. Könnten die Genossen unter diesen Umständen wirklich Annegret Kramp-Karrenbauer ihre Stimmen verweigern und die Regierung platzen lassen? Das würde angesichts der großen Herausforderungen des Vereinten Europas arg kleinkariert aussehen.

Mike.Schier@ovb.net

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