Berlin/München – Der Kanzlerin purzeln die Worte nicht aus dem Mund. Was Angela Merkel öffentlich sagt, ist genau durchdacht. Lieber schweigt sie, als sich zu verplappern. An diesem Donnerstag aber verwirrt sie das Land, man weiß nicht, ob planvoll oder aus Versehen. Im „SZ“-Interview kündigt sie an, sich künftig mit noch größerem Einsatz für Europa einzusetzen. „Viele machen sich Sorgen um Europa, auch ich. Daraus entsteht bei mir ein noch einmal gesteigertes Gefühl der Verantwortung, mich gemeinsam mit anderen um das Schicksal dieses Europas zu kümmern.“
Ist das die versteckte Ankündigung, notfalls ein hohes Amt in Brüssel anzunehmen, wie seit Wochen in Berlin geraunt wird? Kann die mächtigste Frau des Kontinents sich überhaupt schlagartig zur Ruhe setzen? Pikanterweise philosophierte kürzlich sogar ein enger Vertrauter im kleinen Kreis über die Brüsseler Möglichkeit. Das sei „die eleganteste Variante“ für einen vorzeitigen Wechsel im Kanzleramt. Wenn Merkel nach der Europawahl der Ruf aus Brüssel ereile, könne sie angesichts der unruhigen Zeiten in der EU und in der Welt nicht Nein sagen. Am Nachmittag schon dementiert sie höchstpersönlich. Sie stehe „für kein weiteres politisches Amt, egal wo es ist, auch nicht in Europa, zur Verfügung“, sagt sie vor laufenden Kameras.
In der Politsprache gilt so etwas als „hartes Dementi“, andernfalls würde sich ein Politiker mit müden Floskeln („Diese Frage stellt sich jetzt nicht“) aus der Affäre winden. Die Zukunft der Koalition bleibt dennoch ungewiss. Nach der Europawahl wird die Bundesregierung so oder so durcheinandergewirbelt.
Als erster Unsicherheitsfaktor gilt die SPD. Bei den Genossen gärt es mal wieder gewaltig, auch wenn vor dem Wahltag alle stillhalten. Die Umfragen für die Europawahl sind schlecht, in der einstigen Hochburg Bremen droht der Machtverlust, auch in vielen Kommunen könnten die Grünen der SPD den Rang ablaufen. Insider rechnen damit, dass diese explosive Mischung am 27. Mai bei der Vorstandssitzung explodiert. Andrea Nahles dürfte Kevin Kühnert und seine Sozialismusdebatte zum Sündenbock erklären. Doch auch die Vorsitzende muss sich warm anziehen. „Sigmar Gabriel und Martin Schulz warten nur auf den Tag der Abrechnung“, heißt es in der Partei. Die Ersten fordern schon eine Trennung von Partei- und Fraktionsvorsitz. Es kursieren schon Namen: Achim Post beispielsweise, Chef der mächtigen NRW-Landesgruppe. Was all das für die GroKo heißt, ist kaum absehbar.
Auch in der Union wächst die Sehnsucht nach einer Art Neubeginn. Mehrere CDU-Minister schwächeln. Peter Altmaier hat die Wirtschaft gegen sich aufgebracht, Anja Karliczek (Bildung) blieb blass, Ursula von der Leyen quält sich glücklos durch die Verteidigungspolitik. Friedrich Merz drängt ins Kabinett. Hinter vorgehaltener Hand wird von einer großen Umbildung geraunt. Noch ist aber offen, wann: Mehrere in der Union wollen das möglichst schnell, noch vor den Ost-Landtagswahlen im Herbst – andere raten zum Abwarten.
Das beträfe dann auch massiv die CSU. Innenminister Horst Seehofer bleibt höchstens so lange wie Merkel im Amt. Danach wird sein Riesen-Ministerium wohl aufgeteilt in die Bereiche Inneres und Bau. Wobei die CSU nicht mehr darauf bestehen wird, das Innenressort zu führen, denkbar wäre auch das Verteidigungsministerium und das mit Milliarden gefüllte Forschungsressort.
Für die CSU könnte es sogar ein aus Berliner Sicht besonders attraktives Szenario geben: Macht Merkel vorerst in einer Minderheitsregierung weiter, also ohne die SPD-Minister, wäre für Manfred Weber auf Bundesebene ein überraschender Einsatz möglich: als Außenminister. Aber nur, wenn er nicht Kommissionspräsident wird.