Änderungswünsche am Grundgesetz

von Redaktion

60 Mal wurde das Grundgesetz in seinen 70 Jahren schon umgeschrieben – und auch jetzt gibt es Reformvorschläge von vielen Seiten. Manche wurden sogar extra für den Jahrestag formuliert. Ein Überblick.

VON WERNER KOLHOFF

Berlin – Am aussichtsreichsten ist derzeit die Einfügung eines Kindergrundrechtes. Bisher schützt das Grundgesetz Ehe und Familie und darüber hinaus die Würde aller Menschen. Kinder sind nicht ausdrücklich als Rechtssubjekte mit eigenen Rechten genannt. Die Große Koalition hat eine Reform bereits verabredet; Ende des Jahres soll ein konkreter Formulierungsvorschlag kommen. Der Druck auf den Staat, Kinder vor Armut und Vernachlässigung zu schützen, würde damit steigen. Kinderschutzorganisationen unterstützen das.

Auch andere Änderungswünsche betreffen solche Staatszielbestimmungen. Sie sollen den Druck auf die Regierungen erhöhen, ihre Politik zu ändern. Oft geht es um soziale Grundrechte. Früher war es das „Recht auf Arbeit“, auch gab es Initiativen für ein „Recht auf Bildung“. Heute ist es das „Grundrecht auf Wohnen“, für das die Linke, Mieterorganisationen und Obdachloseninitiativen eintreten. Jedoch hat es bisher für Derartiges nie eine Mehrheit in Bundestag und Bundesrat gegeben, auch jetzt sieht es nicht danach aus.

Dafür hat sich die Diskussion plötzlich auf Artikel 15 verlagert, der die Möglichkeit zur Enteignung von Grund und Boden vorsieht. Juso-Chef Kevin Kühnert hatte das angestoßen; in Berlin sammelt eine Initiative Unterschriften, um diesen Passus erstmalig anzuwenden. Im Gegenzug ist die FDP auf den Plan getreten. Sie hat auf ihrem letzten Parteitag beschlossen, dass der Artikel 15 gestrichen gehöre, und will das im Bundestag beantragen. Eine Alternative hat eine Gruppe namhafter Ökonomen im April vorgeschlagen. Statt des Enteignungstextes solle in Artikel 15 künftig stehen: „Bund, Länder und Kommunen sind den Prinzipien der sozialen Marktwirtschaft verpflichtet“. Hintergrund: Das Grundgesetz hat sich nicht festgelegt, welche Wirtschaftsordnung es vorzieht, die kapitalistische oder die sozialistische.

Auch am Grundrechtskatalog möchten viele noch etwas korrigieren. So machen sich das Land Berlin und etliche Verbände von Schwulen und Lesben für ein erweitertes Diskriminierungsverbot in Artikel 3 stark. Dort wird man vor Benachteiligung wegen Geschlecht, Abstammung, Rasse, Sprache, Herkunft, Glauben oder politischer Ansicht geschützt, nicht aber vor Benachteiligungen wegen sexueller Orientierung oder sexueller Identität. Auch die Altersdiskriminierung ist nicht erwähnt, was andere Gruppen korrigiert wissen wollen. Die Antidiskriminierungsstelle des Bundes unterstützt diese Reformvorschläge, allerdings ist eine politische Mehrheit für eine Änderung nicht in Sicht. Die FDP wiederum hat vorgeschlagen, das Grundrecht der Presse- und Meinungsfreiheit um die Internetfreiheit zu ergänzen.

Etliche Änderungsvorschläge betreffen die Umwelt. So wollen die Grünen analog zur Schuldenbremse eine CO2-Bremse im Grundgesetz verankern – der Staat soll sich verpflichten, den Kohlendioxidausstoß zu senken und bei allen Gesetzen die Klimafolgen zu bedenken. Etwas allgemeiner formuliert ist ein Vorstoß des Nachhaltigkeitsrates der Bundesregierung, der von Teilen der Union unterstützt wird. Gewünscht ist dort eine Verpflichtung des Staates für eine nachhaltige und generationengerechte Politik – nicht nur im Umweltbereich.

An der Organisation des Staates rüttelt im Grundgesetz aktuell nur die AfD. Die anderen Parteien haben ihre Änderungswünsche hierzu mit den Föderalismusreformen von 2006 und zuletzt mit der Lockerung des Kooperationsverbotes Ende 2018 offenbar weitgehend erschöpft. Die Rechtspopulisten möchten gern die Amtszeit des Bundeskanzlers begrenzen, mehr Volksentscheide zulassen, den Bundespräsidenten direkt wählen lassen und die „deutsche Leitkultur“ in die Verfassung aufnehmen. Außerdem soll „Deutsch als Landessprache“ festgeschrieben werden.

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