Das Kreuz mit der Briefwahl

von Redaktion

Seine Stimme im Voraus abzugeben, ist bequem – trotzdem mahnt der Bundeswahlleiter

München – Auf den Plakaten ist die Sache eindeutig: Die Europawahl findet am 26. Mai statt, am kommenden Sonntag also. Doch so ganz stimmt das in Wahrheit gar nicht. Viele Bürger haben ihre Wahl schon getroffen, vielleicht erst in den letzten Tagen, vielleicht auch schon vor zwei Wochen. Per Briefwahl abzustimmen, ist für sie eine bequeme, oft sogar nötige Alternative. Aber sie kann auch ein Problem sein.

Der Bundeswahlleiter hat sich jetzt mit mahnenden Worten gemeldet. Den Zeitungen der Funke-Mediengruppe sagte Georg Thiel, er sehe die steigende Zahl der Briefwähler kritisch. Eine hohe Beteiligung sei zwar „gut für den demokratischen Willensbildungsprozess“, aber grundsätzlich angestrebt werde vom Gesetzgeber „die Stimmabgabe an der Urne, also am Wahlsonntag“. Die Briefwahl, bemängelt er, beeinflusse die Prinzipien der gleichen und geheimen Wahl: „Der Wahlzeitraum wird auf mehrere Wochen gestreckt.“

Wie problematisch dieser Effekt sein kann, zeigt gerade der große Aufreger der vergangenen Tage. Der Skandal um die FPÖ und das Strache-Video dürfte auch in Deutschland auf etliche Wähler einen Einfluss haben. Wer seine Stimme bereits vor einer Woche abgab, tat dies noch unter völlig anderen Voraussetzungen. Geheim wiederum ist eine Briefwahl schon deshalb nicht zwingend, weil niemand nachprüfen kann, unter welchen Umständen jemand zuhause votiert.

Die Zahl der Briefwähler steigt seit Jahren. Lag sie bei der Bundestagswahl 1994 deutschlandweit noch bei 13,4 Prozent, kletterte sie 2017 auf einen mehr als doppelt so hohen Wert (28,6). Noch drastischer ist der Anstieg in Bayern. Von 14,5 Prozent 1994 stieg sie bis 2017 auf 37,3. Der Freistaat nimmt damit national den Spitzenplatz ein. Bundeswahlleiter Thiel verweist auf Würzburg, wo bei der letzten Bundestagswahl 45,7 Prozent der Stimmen auf dem Postweg abgegeben wurden. Einen noch höheren Wert gab es bei der Landtagswahl 2018. Im Landkreis Garmisch-Partenkirchen votierte mehr als jeder Zweite (50,3 Prozent) per Briefwahl.

Der Trend hat zahlreiche Gründe. Gedacht war die Briefwahl, die 1957 eingeführt wurde, als Erleichterung für alte, kranke und behinderte Menschen oder all jene, die zum entsprechenden Termin andere Verpflichtungen hatten (Arbeit, Urlaub). Aber sie ist natürlich auch komfortabel. Wer im Vorfeld seine Stimme abgibt, kann den Sonntag frei verplanen – oder bei schlechtem Wetter einfach daheim bleiben. Auch die zunehmend flexibleren Arbeitszeiten spielen eine Rolle. Sonntagsarbeit ist längst keine Ausnahme mehr. Bevor die Zeit für den Gang ins Wahllokal knapp wird, setzt man sein Kreuzchen lieber in aller Ruhe. Auch wenn bis zum 26. Mai noch eine Menge passieren kann. MARC BEYER

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