ALEXANDER WEBER
Dies sei die Kommission der letzten Chance, meinte Jean-Claude Juncker, als er 2014 an die Spitze der Brüsseler Mammut-Behörde rückte. Heute, fünf Jahre später, da Europas Bürger wieder zur Wahl des EU-Parlaments gerufen werden, fällt die Bilanz in mehrerer Hinsicht widersprüchlich aus. Einerseits stehen Wirtschaftswachstum, sinkende Arbeitslosenzahlen und fallende Schuldenstände in den Eurostaaten auf der Habenseite. Auch die Regelungswut in Brüssel hat deutlich nachgelassen. Andererseits ächzt vor allem der Süden noch immer unter einer viel zu hohen Jugendarbeitslosigkeit, die Spardisziplin in Frankreich, Griechenland und Italien lässt schon wieder nach. Und: Mit Großbritannien droht – auch wenn die Messe für den Brexit noch nicht zu Ende gelesen ist – ein Pfeiler der Union wegzubrechen.
Die Migrationskrise hat zudem in aller Schonungslosigkeit eine Schwäche der EU offenbart, die die aktuelle Wahl tatsächlich schicksalhaft erscheinen lässt: den Vormarsch der Nationalisten vor allem rechter Couleur. Ihre Vertreter verletzen nicht nur sanktionsfrei das Solidaritätsprinzip in der EU. Sie zielen unverhohlen auf die Zerstörung jenes Projektes, das Europa in den vergangenen 70 Jahren ein Maß an Frieden und Wohlstand gebracht hat, wie es weltweit seinesgleichen sucht. Die liberale Demokratie mit Meinungsfreiheit, unabhängiger Justiz, Freiheit der Forschung, unabhängigen Medien und Minderheitenrechten wird herausgefordert wie selten. Gott sei Dank spüren immer mehr Bürger, die Europas „Way of Life“ bisher wie selbstverständlich gelebt und genossen haben, dass Erreichtes ernsthaft bedroht ist und verloren gehen kann. Die vielen proeuropäischen Demonstrationen in München, Berlin und anderswo auf dem Kontinent sind ein Indiz dafür, dass dieses Bewusstsein über Parteigrenzen hinweg zunimmt.
Die Abwehrreaktion auf die Gefahr von innen wird ergänzt durch die wachsende Einsicht, dass Europa nur vereint in einer globalen Welt eine Rolle spielen kann. Gegenüber autoritären Giganten wie Russland und China, aber auch „Freunden“ wie Donald Trump reicht „Soft Power“ nicht aus. Juncker konnte in Washington einen Handelskrieg nicht deshalb (zumindest vorerst) vermeiden, weil Macho Trump Europas Frauen so hübsch findet. Sondern weil der Rambo im Weißen Haus die Macht des 500-Millionen-Menschen-Binnenmarktes respektieren musste. Dies zu erhalten und auszubauen, ist eine Überlebensfrage für Europa. „Jeder für sich“ ist dagegen das nationale Rezept für globale Bedeutungslosigkeit.
Mit Manfred Weber kandidiert erstmals ein Bayer für die Spitze Europas. Vor einem Missverständnis sollte man sich hüten: Mit einem Präsidenten Weber würde Europa nicht „deutsch“ regiert. Jeder Kommissionschef muss die gesamteuropäische Brille aufsetzen. Aber wenn die Mächtigen in Brüssel zusammensitzen, kann ein Schuss bayerische Bodenständigkeit nicht schaden.
Alexander.Weber@ovb.net