München/Berlin – Vermutlich ist es ein historischer Abend. Jedenfalls fühlen es die Grünen so. In Berlin, wo der Bundesvorsitzenden Annalena Baerbock vor Begeisterung die Stimme überschlägt. Erstmals liegt ihre Partei bundesweit vor der SPD. Es riecht nach Zeitenwende. „Lasst uns dieses Europa gemeinsam verenden“, ruft Baerbock. Und als alles um sie herum zu johlen beginnt, verbessert sie schnell: „verändern“.
Die Euphorie scheint keine Grenzen zu kennen. Auch in Bayern nicht. Im großen München, in Würzburg, aber auch im wesentlich kleineren Freising ist die Partei plötzlich stärkste Kraft. Die Genossen in der Landeshauptstadt nähern sich den katastrophalen Ergebnissen, wie man sie bislang nur aus den ländlichen Regionen des Freistaats kannte. Die Ökopartei aber hat plötzlich mehr als 30 Prozent. Daraus entsteht über Nacht auch ein ganz anderer Anspruch für die Kommunalwahl im März 2020. „Die Landtagswahl war ganz offensichtlich keine Eintagsfliege“, sagt Landtags-Fraktionschef Ludwig Hartmann voller Euphorie. „Wir können jetzt ernsthaft vom Ziel sprechen, demnächst einen grünen Oberbürgermeister zu stellen.“ Bislang hieß es in der Partei, die Kandidatin Katrin Habenschaden sei noch zu unbekannt, um Dieter Reiter wirklich herauszufordern – an diesem Abend scheint nun plötzlich alles möglich.
Mit mehr als 20 Prozent der Stimmen können die Grünen ihr Ergebnis der Europawahlen 2014 (10,7) nahezu verdoppeln. Dass sich der Fokus immer stärker auf Klima- und Umweltschutz richtet, dass Artenschutz auf der öffentlichen Agenda nach oben schnellt, dass Schüler jeden Freitag auf Demos gehen und den Unterricht sausen lassen, all das ist der Öko-Partei zwangsläufig zugute gekommen wie keiner anderen. „Das ist das Thema, das die Leute umgetrieben hat. Das haben wir tagtäglich erlebt“, sagt Spitzenkandidatin Ska Keller. Sie sei „so froh, dass wir es geschafft haben, einen ‚Sunday for Future‘ zu machen“, schwelgt sie.
Bereits am frühen Abend macht eine ARD-Umfrage deutlich, auf wessen Kosten der Erfolg geht. Jeweils über eine Million Wähler hat man Union und SPD abgejagt. Bei CDU und CSU waren es 1,25, bei den Sozialdemokraten 1,37 Millionen. Vor allem junge Wähler votieren grün – und auch das sind beeindruckende Werte: Unter den 18- bis 24-Jährigen kommt man auf 34, bei den 25- bis 34-Jährigen auf 27 Prozent. Später, als das ZDF eine weitere Erhebung veröffentlicht, wird die Einordnung noch plastischer. Von 33 Prozent bei den unter 30-Jährigen ist da die Rede – damit sammeln die Grünen in dieser Altersgruppe mehr Stimmen ein als Union (13) und SPD (10) zusammen.
Unter dem Eindruck all dieser Zahlen ist es nur verständlich, dass auf der Berliner Wahlparty schon zu früher Stunde der Jubel überschäumt. Annalena Baerbock schickt Grüße kreuz und quer über den Kontinent, an die Wahlkämpfer bei Kommunalwahlen in zehn Bundesländern („Ihr seid die wahren Helden dieser Demokratie“) und an die Spitzenkandidaten der Europawahl. Der eine, Sven Giegold, steht direkt neben ihr. Die andere, Ska Keller, führte die Grünen des gesamten Kontinents in diese Wahl und ist deshalb jetzt in Brüssel. Sie sei maßgeblich daran beteiligt, „dass wir in Europa so ein saustarkes Ergebnis eingefahren haben“, ruft Baerbock. Wieder kippt ihre Stimme kurz, und das ist erst der Anfang. Es wird eine lange Nacht. In Berlin, in Brüssel und überall sonst, wo Grüne etwas zu feiern haben. M. SCHIER/M. BEYER