München/Berlin – Andrea Nahles spricht ungewöhnlich lange. Es ist keiner dieser kurzen Wahlabend-Auftritte, in denen man fix das Ergebnis bewertet, kurz den Kandidaten dankt und dann weiter ins nächste TV-Studio eilt. Nein, die SPD-Vorsitzende hat vor laufenden Kameras etwas mitzuteilen. Weniger dem Wahlvolk, eher der eigenen Parteispitze. Man habe sich nach der Bundestagswahl entschlossen, die Partei neu aufzustellen, erinnert die 48-Jährige. Ende 2019 dürften die wichtigsten Schritte absolviert sein, verspricht sie. Und dann folgt der zentrale Satz: „Das Schlimmste, was uns passieren könnte, wäre, wenn wir diesem Weg auf halber Strecke abbrechen.“
Im Willy-Brandt-Haus, in Sichtweite der Statue des Namensgebers, steht eine SPD-Vorsitzende, die um ihr Amt kämpft. Es ist eine Szenerie, wie man sie in den letzten Jahren immer wieder erlebt hat. Erst kämpfte Sigmar Gabriel – vergeblich. Dann kämpfte Martin Schulz – vergeblich. Und nun kämpft eben Andrea Nahles. Und es ist schon ziemlich kurios, dass hinter den Kulissen offenbar ausgerechnet das Tandem Gabriel/Schulz die Ablösung der eigenen Nachfolgerin betreibt. Es zeigt die ganze Ratlosigkeit der Partei.
Neben Nahles steht Katarina Barley, die Spitzenkandidatin. „Ich habe echt alles gegeben, was ich konnte“, sagt sie und klingt dabei so ehrlich verzweifelt, dass sich bei den Genossen fast trotziger Beifall Bahn bricht. Sie sind einfach alle so ratlos, warum es immer weiter bergab geht. „Kopf hoch“, rät Andrea Nahles den Parteifreunden. Das sagt sich so leicht. Bei der Bundestagswahl galten noch 20,5 Prozent als Desaster, jetzt sind es noch einmal fünf Prozentpunkte weniger. Überall sei sie im Wahlkampf auf extrem motivierte Parteifreunde getroffen, berichtet Barley. Doch die Bürger wollen die Botschaften dieser engagierten Wahlkämpfer einfach nicht mehr hören.
Seit Tagen wabern durch Berlin die Gerüchte, was nach einem schlechten Ergebnis auf die Partei zukomme – wobei die Definition von „schlechtem Ergebnis“ quasi wöchentlich nach unten korrigiert wurde. Einige erwarteten eine Abrechnung von Nahles mit Juso-Chef Kevin Kühnert, dessen Gedankenspiele über eine Vergemeinschaftung des BMW-Konzerns bis weit in die Gewerkschaften für Aufregung sorgte. Andere berichteten von einer Geheimabsprache der mächtigen Landesverbände Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen, der Parteichefin Nahles den Fraktionsvorsitz streitig zu machen. Ämterteilung, hieß es da noch.
Jetzt ist das Ergebnis nicht nur schlecht, sondern verheerend. Im ganzen Land. Und in Bayern besonders. In der einstigen Hochburg München langt es noch zu 11,4 Prozent.
Deshalb wollen die Aufständischen Nahles nun ganz aus der SPD-Führung drängen. Offen ist, wie groß die Unterstützung ist. Klar ist dagegen, dass Martin Schulz eine entscheidende Rolle spielt. Der gescheiterte Kanzlerkandidat, heute einfacher Bundestagsabgeordneter, reist seit Wochen rastlos durchs Land. Er sei eben ein glühender Europäer, loben die einen. Andere interpretierten die Schulz-Tour skeptischer: Da sammle einer seine Truppen. Bereits vergangene Woche soll Nahles Schulz wegen eines angeblichen Putschversuchs zur Rede gestellt haben.
Gestern berichtete die „Bild am Sonntag“, Schulz plane eine Kampfkandidatur um den Fraktionsvorsitz gegen sie. „Martin verspricht ganz klar, dass er gegen Andrea antreten wird“, zitierte die Zeitung einen Schulz-Vertrauten. Von Ämterteilung scheint keine Rede mehr. Schulz soll die Fraktion übernehmen, sagt ein Abgeordneter. Für den Vorsitz müsse man einen der Ministerpräsidenten gewinnen. Stephan Weil aus Niedersachsen oder Manuela Schwesig (Mecklenburg-Vorpommern).
Ob es dazu kommt, ist völlig offen. Am Sonntagabend werden hektisch Textnachrichten verschickt. Alle sind sich einig, dass man das Thema Klimaschutz verschlafen habe. Alle rätseln, warum die Sozialthemen wie Grundrente, Mietpreisbremse oder die Abkehr von Hartz IV beim Wähler nicht verfangen.
Aber jetzt schon wieder neues Personal? „Schulz tut sich keinen Gefallen damit, wenn sein Name schon Tage vor der Wahl durch die Zeitungen geistert“, sagt einer aus der Parteispitze. Selbst seine Unterstützer geben zu: „Für einen Neuanfang steht er nicht.“ Aber er sei sicher besser als Nahles. MIKE SCHIER