Wien – Sebastian Kurz scheint es noch nicht wirklich zu begreifen. Er wirkt zwar gefasst, aber auch betreten, betäubt, ohnmächtig. Gerade noch saß er fest im Sattel. Im nächsten Moment sind er und seine Regierung gestürzt – durch das erste erfolgreiche Misstrauensvotum in der österreichischen Geschichte. Ein Moment des Zögerns. Höflich, korrekt, so ist er, reicht er dann der zweiten Nationalratspräsidentin Doris Bures (SPÖ) die Hand. Eine Abschiedsgeste.
Glänzende Wahlsiege auf jeder Ebene, beste Popularitätswerte, eine stabile Mehrheit – die Säulen der Macht sind für Kurz innerhalb kürzester Zeit zerbröckelt. Nur zehn Tage nach Beginn der Regierungskrise mit dem Skandal-Video seines einstigen Vizekanzlers Heinz-Christian Strache ist auch der 32-Jährige politisch unter die Räder gekommen. Der von SPÖ, FPÖ und Liste Jetzt getragene Misstrauensantrag hat Österreich politisch auf den Kopf gestellt.
Die seit dem Platzen der ÖVP-FPÖ-Koalition erstarkte Opposition nutzt ihre erste Chance. „Sie wollen nicht überzeugen, Sie wollen erzwingen“, bemängelt SPÖ-Chefin Pamela Rendi-Wagner den Umgang des Regierungschefs mit dem Parlament. Und auch Ex-Innenminister Herbert Kickl von der FPÖ unterstellt dem Kanzler einen „widerlichen“ Griff nach der Macht. Kurz habe zwei Gesichter, „das freundlich, ewig lächelnde – und ein anderes“.
Es wirkt so, als ob dem einstigen politischen Wunderkind Europas der Hang zum immerwährenden Wahlkampf-Modus zum Verhängnis geworden ist. Schon in der ersten Erklärung zur Regierungskrise habe Kurz eine „beinharte Wahlkampfrede“ gehalten, meint die SPÖ-Abgeordnete Andrea Kuntzl. „Das war eines österreichischen Kanzlers unwürdig. So erarbeitet man sich Schritt für Schritt Misstrauen.“
Es ist der Grundtenor einer dreistündigen Debatte, in der die Opposition versucht, Kurz als reinen Macht-Politiker darzustellen, dem Staatsräson nur in den Sinn kommt, wenn sie ihm dient. Er habe binnen zwei Jahren zwei Koalitionen an die Wand gefahren, erinnern Redner an seine angeblich destruktive Rolle beim Ende der SPÖ-ÖVP-Koalition 2017.
Kurz gibt sich in seiner Rede wie gewohnt eher kühl und staatsmännisch sortiert. Und er sieht sich bereits wieder als jemand, der weiß, was das Volk will. „Jetzt auch noch die ganze Regierung stürzen zu wollen, wenige Monate vor einer Wahl, das ist etwas, das kann, glaube ich, niemand in diesem Land nachvollziehen.“ In der Tat lehnt eine Mehrheit in Umfragen das Misstrauensvotum von SPÖ (und FPÖ) ab. Am Abend gibt sich Kurz vor Anhängern in Wien entsprechend kämpferisch: „Die Veränderung, die hier vor zwei Jahren begonnen hat, die wird mit dem heutigen Tag nicht enden.“
So ist der Schritt für die SPÖ eine brisante Sache. Die SPÖ habe ihre Meinung in Sachen Kanzlersturz in der eigenen Echokammer gebildet, schrieb der „Kurier“. „Sie verwechselte die Befindlichkeit ihrer Funktionäre und der Twitterblase mit den Wählern.“ Bei der EU-Wahl hat die SPÖ mit rund 23 Prozent ihr bisher schlechtestes Ergebnis verbucht. Doch diese Schlappe sollte die intern umstrittene Parteichefin Rendi-Wagner nicht vom Angriff auf den 32-Jährigen abhalten. Verlockend scheint die Aussicht, dass Kurz im Wahlkampf auf den Amtsbonus und umfangreiche strategische Hilfe aus dem Regierungsapparat verzichten muss. Die Sozialdemokraten wollen nun eine reine Expertenregierung, und sie sehen darin eine große Chance.
Ob mit oder ohne Amtsbonus – Kurz bleibt der haushohe Favorit für die Neuwahlen. „Ich sehe von den aktuellen Spitzenkandidaten für die Nationalratswahl niemanden, der Kurz kommunikativ das Wasser reichen könnte“, sagte Politikberater Thomas Hofer. Die Macht-Demonstration der Opposition könnte Kurz zum Polit-Märtyrer machen, der umso deutlicher beim nächsten Mal gewinnt. Die „Kronen Zeitung“ vermutet, dass aus dem aktuellen Rückenwind für Kurz ein Orkan werden könnte. Und auch ein Sozialdemokrat unkt: „Er gewinnt jede Wahl, egal, was er tut.“