Berlin – Bis zum Montagnachmittag schien es noch so, als wollte Andrea Nahles das Wahldesaster ihrer Partei vom Abend zuvor möglichst schnell abhaken. Eine intensive Aussprache im SPD-Vorstand, bei der aber jeder Personaldebatte eine Absage erteilt wurde, und die Ansage, kommende Woche eine Klausursitzung über inhaltliche Konsequenzen aus den Niederlagen in Europa und Bremen abzuhalten – das war‘s.
Doch am Abend war alles anders. Im ZDF verkündete Nahles, die im September anstehende Neuwahl zum Fraktionsvorsitz auf nächste Woche vorzuziehen. Als Begründung nannte sie den zwischenzeitlich bekannt gewordenen Brief eines nordrhein-westfälischen Bundestagsabgeordneten, in dem auf eine Klärung der Führungsfrage in der Fraktion gepocht wurde.
Hintergrund sind schon länger wabernde Spekulationen, wonach mindestens drei Fraktionsmitglieder Nahles den Spitzenposten streitig machen wollten. So ermunterte die Amtsinhaberin ihre Kritiker geradezu, aus der Deckung zu kommen: Alle, die glaubten, „einen anderen Weg“ gehen zu wollen, sollten sich „hinstellen und sagen: Ich kandidiere“, meinte Nahles. Übersetzt hieß das: Tretet gegen mich an oder haltet endlich den Mund.
Es war eine einsame Entscheidung. Dem Vernehmen nach berief sie den geschäftsführenden Fraktionsvorstand erst am späten Montagabend ein, um ihren Plan mitzuteilen. Da war die Nachricht längst in der Welt. In dem engsten Führungszirkel gab es für ihren Vorstoß dann auch nur eine vergleichsweise knappe Mehrheit von sieben zu vier Stimmen. Schnell wurde auch klar, dass es nach den internen Regularien für die Neuwahl der Fraktionsspitze eines förmlichen Beschlusses des gesamten Vorstands bedarf, um den Punkt auf die Tagesordnung zu setzen. Der soll nun an diesem Mittwoch nachgeholt und in einer anschließenden Sondersitzung der Fraktion von allen SPD-Bundestagsabgeordneten abgesegnet werden. Laut Einladung soll es dabei auch um die „Auswertung“ der desaströsen Wahlergebnisse gehen. Die Wahl zum Vorsitz ist für kommenden Dienstag angesetzt.
Wie sich die Dinge bis dahin entwickeln, steht in den Sternen. Dem Vernehmen nach kam es gestern zu einer Telefonkonferenz der Landesgruppenvorsitzenden, in der Nahles‘ Schritt auf breite Zustimmung stieß. Es sei besser, die Sache jetzt zu klären, als sie noch Monate hinzuziehen. Mancher sprach allerdings auch von „Erpressung“, mit der Nahles ein „hohes Risiko“ eingehe. Müsste sie als Fraktionschefin weichen, wäre sie wohl auch schnell den Parteivorsitz los. Andere hielten es für unwahrscheinlich, dass es überhaupt zu Gegenkandidaturen kommt.
Als potenzielle Anwärter gelten der Chef der mächtigen NRW-Landesgruppe, Achim Post, der zum konservativen Flügel der „Seeheimer“ zählt, der Niedersachse und Sprecher der Parlamentarischen Linken, Matthias Miersch, sowie der ehemalige Kanzlerkandidat Martin Schulz. Ihm werden jedoch keine ernsthaften Chancen eingeräumt, Nahles im Fraktionsvorsitz zu beerben.
Wohl auch deshalb winkte Schulz bereits ab. Angesprochen darauf, ob er selbst antrete, meinte er gegenüber der „Zeit“: Diese Frage „stellt sich zurzeit nicht“. Zugleich kritisierte Schulz das Vorpreschen von Nahles: „Wir sollten Ruhe bewahren und die richtigen Entscheidungen zur richtigen Zeit treffen.“
Auch Post gilt eher als Außenseiter. Die „Seeheimer“ verfügen nur über etwa ein Drittel der Abgeordneten. Dagegen könnte Miersch eine realistische Alternative sein, wie es hieß. Falls er den Sprung wagt. Mehr Aufschluss wird von der Sondersitzung an diesem Mittwoch erwartet. STEFAN VETTER