München – Das Anschreiben beginnt durchaus freundlich. „Liebe Andrea“ beginnt die bayerische Landesvorsitzende Natascha Kohnen ihren Brief an die Parteivorsitzende Nahles. „Wir respektieren den großen Einsatz seitens der SPD, um den ursprünglichen Gesetzentwurf zu ,entschärfen‘.“ Doch was dann folgt, ist eine schonungslose Auflistung von Punkten, in denen dieser „große Einsatz“ beim sogenannten Geordnete-Rückkehr-Gesetz offenbar nicht von Erfolg gekrönt war. Und dann folgt der Satz: „All dies kann nicht in unserem Sinne sein.“ Mit anderen Worten: Nahles wird vom bayerischen Landesvorstand – einstimmig – dazu aufgefordert, noch einmal neu mit der Union zu verhandeln.
Den Brief haben die Bayern bereits vor zwei Wochen geschrieben, doch erst jetzt, nach der missratenen Europawahl, verschickten sie ihn an die anderen Landesverbände. Der Vorstoß ist heikel, weil für die Genossen viel davon abhängt: Das Abschiebegesetz ist eng mit dem Zuwanderungsgesetz für Fachkräfte verbunden, das den Genossen in Berlin ein besonderes Anliegen ist. Nur: Die Kritik an den Plänen, die vor allem Innenminister Horst Seehofer (CSU) verfolgt, wird immer lauter. Wenn nun die Bayern-SPD – zwar notorisch krisengeplagt, aber immerhin zweitgrößter Landesverband – so deutlich wird, hat die Berliner Fraktion ein Problem.
Konkret fordern die Bayern, „die Streichung von verfassungsrechtlich höchst kritischen Verschärfungen zur Abschiebehaft“. Zudem lehnen sie die Schaffung einer „Duldung zweiter Klasse“ ab, die für Flüchtlinge vorgesehen ist, die nicht zur Klärung ihrer Identität beitragen. „Die neue Regelung ist nach unserer Auffassung mit den europarechtlichen Vorgaben nicht zu vereinbaren“, schreibt Kohnen. Die generelle Passbeschaffungspflicht für Zuwanderer laufe zudem den Bestrebungen zuwider, Geduldeten zumindest eine Ausbildung zu ermöglichen.
Zudem fordert die Bayern-SPD Rechtssicherheit für Helferkreise. Die Weitergabe von Informationen zu Abschiebungen dürfe nicht als Anstiftung oder Beihilfe strafbar sein, heißt es in dem Beschluss. Nicht nur dieser Punkt passt zu einem offenen Brief von 22 zivilgesellschaftlichen Organisationen, die massiv gegen die Gesetzespläne opponieren.
Das Schreiben birgt inhaltlichen, aber auch persönlichen Sprengstoff für die SPD und die Große Koalition. Für die GroKo, weil die Union angesichts der eigenen Schwäche derzeit kaum verhandlungsbereit sein dürfte. Für die SPD, weil Kohnen immerhin Stellvertreterin von Nahles als Bundesvorsitzende ist. Das Verhältnis der beiden gilt schon länger als belastet, spätestens seit dem Streit über den Umgang mit dem damaligen Verfassungsschutzpräsidenten Hans-Georg Maaßen ist daraus eine echte Rivalität erwachsen. Nicht nur im durch das blamable Landtagswahlergebnis verunsicherten bayerischen Landesverband herrscht Verärgerung, weil man in Berlin die Probleme der Basis nicht verstehe.
So dreht sich die Partei weiter im Kreis: In Berlin hat keiner wirklich Interesse, die Koalition platzen zu lassen. An der Basis aber wollen viele genau das. Der Frust richtet sich zunehmend gegen Andrea Nahles, doch eine überzeugende Alternative fällt niemandem ein. Der frühere SPD-Chef Martin Schulz ließ die Spekulationen, er wolle Nahles als Fraktionsvorsitzende herausfordern, tagelang laufen, ehe er am Mittwoch davon Abstand nahm. Auch Juso-Chef Kevin Kühnert erklärte:: „Keine Partei sollte eigentlich besser als die SPD wissen, dass mit irgendwelchen schnell mal dahin gehauchten Personalwechseln sich rein gar nichts zum Besseren wendet.“
Klar ist: In der Fraktion herrscht großer Unmut – und verliert Nahles das Votum, wäre sie auch als Parteichefin kaum zu halten. Doch bislang hat sich kein Gegenkandidat gefunden. Findet sich noch jemand? Ruhe dürfte so oder so nicht einkehren: Im Herbst drohen bei den Wahlen im Osten die nächsten Pleiten. Und dann naht die vereinbarte Evaluierung der Koalition. Wer den bayerischen Beschluss zum Abschiebegesetz liest, kann sich vorstellen, wohin die Reise geht.