München – Zum Wesen des Machtkampfes gehört in der Regel, dass mindestens zwei Protagonisten daran beteiligt sind. Vermutlich muss man das, was SPD-Chefin Andrea Nahles zum Ende dieser Woche veranstaltet, deshalb eher als Schattenboxen bezeichnen. Völlig überraschend hatte die Parteivorsitzende angekündigt, sich kommenden Dienstag in der Fraktion einer Abstimmung zu stellen. Seitdem herrscht massiver Unmut über die Chefin – nur ein Gegenkandidat will sich bislang nicht finden.
In der Fraktion herrscht Rätselraten. „Wer sich hätte melden wollen, hätte das am Mittwoch tun können. Und meiner Meinung nach auch tun müssen“, sagt der Sprecher des konservativen Seeheimer Kreises, Johannes Kahrs, der „Funke“-Gruppe. Dagegen ist der Münchner Nahles-Kritiker Florian Post überzeugt: „Es wird jemand antreten.“ Nur wer das sein soll, will er unserer Zeitung nicht verraten.
Immer klarer wird, wie sehr sich die Fraktion über das Vorgehen ihrer Vorsitzenden geärgert hatte. Am Montagmittag hatte Nahles nach der Vorstandssitzung eine ganz normale Pressekonferenz gegeben. Nachmittags kam dann der dringende Wunsch von Abgeordneten nach einer Sondersitzung wegen der schlechten Europawahl. Und schon abends erklärte Nahles, dass sie über den Fraktionsvorsitz abstimmen lassen wolle.
Viele Abgeordnete fühlten sich überrumpelt. Die Sitzung am Mittwoch verlief einem Bericht des „Spiegel“ zufolge mehr als turbulent. „Ich halte die Entscheidung, nächste Woche die Entscheidung herbeizuführen, für falsch“, zitiert das Magazin Fraktionsvize Sören Bartol aus Hessen. „Machtpolitisch entspricht das dem Lehrbuch. Ich glaube aber, dass das Ergebnis uns alle umbringt.“ Andere äußern sich ähnlich. Letztlich stimmen 19 Abgeordnete für die Bitte der Vorsitzenden um eine Abstimmung, neun dagegen.
Sollte sich ein solches Ergebnis am Dienstag ohne Gegenkandidat wiederholen, hätte die Vorsitzende ein massives Problem. Und ausgeschlossen ist das nicht. „Wenn Andrea Nahles die einzige Kandidatin sein sollte, wird sie meine Stimme nicht bekommen“, sagte der Parlamentarier Sascha Raabe im „Hessischen Rundfunk“. Sie müsse zur Einsicht kommen, „dass sie den Platz frei machen muss und jemand anderes antreten kann. Manche trauen sich jetzt nicht.“
Hat sich die Vorsitzende verkalkuliert? Vieles spricht dafür, dass Nahles keine andere Chance mehr sah, als die Machtfrage zu stellen. Seit Wochen geisterten Berichte über angebliche Putschisten durch die Zeitungen. Gerhard Schröder und Sigmar Gabriel lästerten ungeniert – wobei sich Gabriel öffentlich zuletzt auffällig zurückhielt. Martin Schulz ließ tagelang Berichte undementiert, er wolle Nahles offen herausfordern.
Wer wann welches Gerücht unter Journalisten gestreut hat, ist eine der spannenden Fragen in der SPD dieser Tage. Wie angespannt die Stimmung ist, wurde laut „Spiegel“ am Mittwoch bei der Sitzung des Seeheimer Kreises deutlich. Dort kam es zu einer Auseinandersetzung zwischen Kahrs und Schulz, der sein Gegenüber dem Bericht zufolge sogar als „Arschloch“ beschimpfte.
Wie es nach der Dienstagssitzung weitergeht, kann niemand sagen. Auch ein vorgezogener Parteitag wäre möglich, bislang ist der 6. Dezember anvisiert. Dort würde sicher auch die GroKo-Frage neu gestellt. Nahles’ Schattenboxen fände dann ein schnelles Ende. MIKE SCHIER