Vom Sieger zum Verlierer in 50 Tagen

von Redaktion

Israel erlebt eine der schwersten Politkrisen seiner Geschichte. Regierungschef Netanjahu scheitert bei der Bildung einer Koalition und muss sich im September schon wieder einer Wahl stellen.

VON SARA LEMEL

Jerusalem – Nach der Wahl im April ließ Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu sich noch als großer Sieger feiern. Es galt als sicher, dass er seine fünfte Amtszeit antreten und im Juli der am längsten amtierende Regierungschef seines Landes werden würde. Doch jetzt ist der 69-Jährige überraschend an der Aufgabe gescheitert, eine stabile Koalition zu schmieden. Es sei „eine der schwersten Niederlagen seiner politischen Karriere“, schrieb die Zeitung „Haaretz“.

Nur 50 Tage nach der letzten Abstimmung hat sich die Knesset schon wieder aufgelöst. Das ist ein einmaliger Tiefpunkt in der politischen Geschichte des Landes. Am 17. September soll nun ein neues Parlament gewählt werden. Kann Netanjahu sich dabei erneut behaupten?

„Wir hatten noch nie eine solche Situation, in der nicht direkt nach der Wahl eine Regierung gebildet wurde“, beschreibt Jochanan Plesner, Leiter des Israelischen Demokratie-Instituts (IDI), die schwere politische Krise. Warum ist es so weit gekommen? Vordergründig scheiterten die Koalitionsverhandlungen am Streit um ein Gesetz, das mehr strengreligiöse jüdische Männer zum Militärdienst verpflichten soll. Ex-Verteidigungsminister Avigdor Lieberman hat sich zur Galionsfigur im Kampf für eine größere Beteiligung des ultra-orthodoxen Bevölkerungssektors an den nationalen Pflichten aufgeschwungen. Damit spricht er vielen Israelis aus der Seele. Der frühere Verbündete Netanjahus beharrt kompromisslos auf seinen Forderungen – auch um den Preis einer Neuwahl.

Der israelische Politikwissenschaftler Emmanuel Navon sieht jedoch auch persönliche Motive. „Ich denke, dass Lieberman sich der Koalition nicht wirklich anschließen wollte, weil es eine lange Geschichte der Feindseligkeit und sogar des Hasses zwischen ihm und Netanjahu gibt“, sagt Navon. Die traditionelle Wählerschaft von Liebermans Partei Israel Beitenu – Einwanderer aus der früheren Sowjetunion – sei geschrumpft. „Er setzt darauf, die Zahl seiner Wähler zu vergrößern, indem er sich als einmalige Mischung von säkularem und rechtem Politiker darstellt.“ Damit gehe Lieberman, dessen Partei mit fünf Sitzen den Sprung in die Knesset knapp geschafft hatte, aber ein großes Risiko ein.

Ein weiterer Faktor ist die drohende Anklage gegen Ne- tanjahu wegen Korruption in drei Fällen. Eine geplante Anhörung wurde gerade auf Oktober verschoben. Die Probleme hätten Netanjahus Bewegungsfreiheit bei den Koalitionsverhandlungen extrem eingeschränkt, sagt IDI-Chef Plesner. Nach der Wahl sei offenbar geworden, „dass Ne- tanjahu radikale Veränderungen des Justizsystems plant, um sich Immunität zu garantieren“. Nach Medienberichten wollte er seine Koalitionspartner mit großzügigen Angeboten dazu bringen, ihn mit Gesetzesänderungen und einer Schwächung des Höchsten Gerichts vor einer Anklage zu bewahren.

Lieberman wirft Likud-Mitgliedern vor, mit Netanjahu einen „Personenkult“ zu betreiben. Solange der Ministerpräsident die rechtskonservative Partei anführt, ist die ebenso große Partei der Mitte, Blau-Weiß, nicht zur Bildung einer großen Koalition bereit. Einem anderen Führungskandidaten innerhalb der Likud-Partei wäre dies „mit einem einzigen Telefonat“ gelungen, meint Plesner. Doch noch regt sich kein offener Widerstand. „Netanjahus potenzielle Nachfolger warten noch“, meint Navon. Im September werden die Karten neu gemischt.

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